Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Noch in der Mordnacht, oder vielmehr in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, trafen sich Claus’ Freunde bei Thorsten und Anna. Sie diskutierten, was jetzt zu tun sei, wie man Claus’ Mutter, aber auch Claus selbst unterstützen könnte. So besprachen sie zum Beispiel, ob einer von ihnen einen erfahrenen Strafrechtsanwalt kennt, der den Fall übernehmen könnte.
Bei dieser Zusammenkunft ging es jedoch in Wirklichkeit um weit mehr als das. Es ging um die Frage, ob man jemandem zur Seite stehen kann und will, der einen Mord begangen hatte. Alle Anwesenden hatten natürlich auch Elke gekannt und waren mit ihr mehr oder weniger eng befreundet, schließlich waren Claus und Elke elf Jahre lang ein Paar gewesen.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie es wohl ist, um zwei, drei Uhr morgens einen Anruf entgegenzunehmen und zu erfahren, dass ein guter Freund, den man schon seit Jahren oder womöglich Jahrzehnten kennt, vielleicht noch aus der Schule, mit dem man sich in der Firma ein Büro teilt oder einmal pro Woche zum Laufen und Feiern geht, dass also dieser Kumpel soeben seine Exfreundin getötet hat. Erschlagen und erwürgt.
Was würden meine Freunde und Freundinnen tun? Wenn ich gemordet hätte? Würde sich Christiane, die sich nicht vorstellen kann, selbst einen Mord zu begehen, entsetzt von mir abwenden? Würde sie mir verbieten, mein Patenkind Leon jemals wiederzusehen? Würden Hannah und Sonja feststellen, dass es unmöglich ist, weiter mit einer Mörderin befreundet zu sein, wenn man selbst betroffen ist, weil man das Opfer sehr gut gekannt hat? Würde sich Hannah die Todesstrafe wünschen, weil ich jemanden getötet hatte, den sie sehr gern gehabt hat? Und würde Olaf feststellen, dass er doch nicht so tolerant ist, wie er jetzt denkt?
Wie würde ich selbst reagieren? Wenn Hannah ihren geliebten Jan hinterrücks erschlagen, wenn Sonja ihrem Hannes Gift ins Müsli gemischt oder Christiane ihrem Martin ein Messer in den Rücken gerammt hätte? Weil sie es nicht ertragen konnten, betrogen und verlassen zu werden? Sosehr ich mich auch bemühe, meine Fantasie reicht nicht aus, um mir das vorzustellen. Vielleicht liegt das auch daran, dass Morde in der Regel von männlichen Tätern verübt werden.
Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir dann allerdings, dass ich in der ersten Zeit versuchen würde, beiden Seiten zu helfen – dem Täter und dessen Angehörigen genauso wie den Hinterbliebenen des Opfers. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie lange ich das durchhalten könnte und ob ich nicht irgendwann angesichts des unfassbar großen Leids auf beiden Seiten das Weite suchen würde, um mich selbst zu schützen. Um nicht hineingezogen zu werden in diesen Strudel aus Trauer, Verzweiflung, Schuld, Wut, Hass, Rache und Verlust.
Bei dem Treffen in der Mordnacht verließen viele schon nach Kurzem Thorsten und Annas Wohnung und wollten nie wieder etwas mit Claus zu tun haben. Über die Jahre sind Claus aus seinem einstmals großen Freundeskreis nicht viele geblieben – aber doch mehr, als zu erwarten war. »Etwas, wofür ich nur dankbar sein kann – ich werde nie in der Lage sein, mich wirklich dafür zu revanchieren«, wie er häufig sagt, »aber auch den anderen kann man es nicht verdenken. Ich weiß nicht, wie ich selbst reagiert hätte.«
Während seine Freunde darüber berieten, ob und wie man Claus unterstützen solle, während Elkes Eltern von der Kripo darüber informiert wurden, dass ihre Tochter tot ist, während Claus’ Mutter von seinen Freunden erfuhr, dass ihr Sohn seine Jugendliebe getötet hatte, während also draußen für viele Menschen die Welt zusammenbrach – und sich trotzdem weiterdrehte –, kam Claus von der Zelle auf der Polizeiwache in Schwabing in Untersuchungshaft, in die Haftanstalt Stadelheim. Die Münchner haben diesem Gefängnis schon vor Jahr zehnten den Spitznamen »St. Adelheim« gegeben, es gehört zu den größten und ältesten Justizvollzugsanstalten Deutschlands und liegt bezeichnenderweise direkt neben einem großen Friedhof. Claus war im Auto ab und zu an dem Gebäudekomplex vorbeigefahren, jedoch ohne das Gefängnis wahrzunehmen. »Ich hatte den Namen natürlich schon oft gehört«, erzählte er mir, »hatte aber keine Ahnung, wo Stadelheim genau liegt. Hat mich, ehrlich gesagt, auch nie interessiert. Das war für mich irgendwo in einer anderen Welt, und ich hätte nie gedacht, dass es mal meine werden würde.«
Einige Zeit nachdem ich mit
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