Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
hat sich die Welt draußen so verändert, dass man sich kaum mehr zurechtfindet. Strafgefangene, die heute entlassen werden, nachdem sie zwanzig Jahre einsaßen, sind in der ersten Zeit draußen extrem hilflos. Amazon, Google, Facebook, Smartphones, Onlinebanking, Job-, Auto- und Wohnungssuche im Netz, Flachbildfernseher mit 3-D-Funktion, die Chipkarte der Krankenkassen, elektronische Bücher, der biometrische Reisepass, Fahrkartenautomaten mit Touchscreen, Pfandflaschenrückgabeautomaten im Supermarkt, Rauchverbote überall, sogar am Bahnsteig, mit dem Handy am Flughafen einchecken, Fahrziele mithilfe des Navis finden, riesige Datenmengen auf einem daumengroßen Stick speichern, Musik und Filme aus dem Netz herunterladen, die Zugfahrkarte, das Flugticket, ja sogar die Kinokarte via Internet kaufen, die Zeitung auf dem Tablet- PC lesen – uns selbst, die wir diese Veränderungen miterlebt und -gelebt haben, fällt gar nicht auf, wie sehr sich unser Alltag seit den Neunzigerjahren verändert hat. Die größten und wichtigsten Änderungen gingen mit dem Internet einher – und genau dazu hat man in Gefängnissen keinen Zugang. Zu groß ist die Gefahr, dass man übers Netz kriminelle Kontakte pflegt, Verbrechen plant oder gar ausführt.
Obwohl Claus insgesamt nur sieben Jahre im Gefängnis war, tat er sich nach der Entlassung in einigen Bereichen schwer, an die er vorher nicht gedacht hatte.
»Ich hatte Probleme mit dem Mac in der Arbeit. Ich wusste zum Beispiel nicht, welche Tastenkombination an diesem Rechner für ein @ nötig ist, und traute mich nicht, jemanden zu fragen. Ich hatte das Gefühl, mich damit zu verraten oder zumindest aufzufallen und schlafende Hunde zu wecken. Ich dachte, so etwas muss man wissen, das weiß einfach jeder außer mir. Darum habe ich am Anfang, wenn ich eine E-Mail schreiben wollte, das @ aus einer anderen Mailadresse kopiert und eingefügt.«
Nur ein winziges, eher unwichtiges Detail, das aber vielleicht besonders deutlich zeigt, wie schwierig die Wiedereingliederung nach einer langen Haftstrafe fällt, auf wie vielen Ebenen sich im Alltag Schwierigkeiten und Stolperfallen auftun.
Ich denke nicht, dass Claus all dies bewusst war, während er den Prozess verfolgte, als würde es um einen anderen gehen, als wäre er in einem Albtraum gefangen. Seine Zukunft war ihm zu diesem Zeitpunkt völlig egal, er hielt sein Leben für beendet. Seine Gedanken kreisten eher um die Frage, wann und wie er sich trotz Dauerüberwachung am besten das Leben nehmen könnte.
In besonders schrecklicher Erinnerung ist ihm geblieben, wie er die Tat vor Gericht schildern musste – vor Elkes Angehörigen, aber auch vor Leni und seinen Freunden.
»Geschüttelt von Schluchzen« stand in einem der Zeitungsartikel. Als ich ihn frage, ob das wahr sei, kann er nicht antworten, nur nicken.
»Das steht da drin?«, fragt er, als er sich wieder etwas gefangen hat. »Als ob es nichts Wichtigeres gegeben hätte.«
Ich sage ihm nicht, dass diese Beschreibung für mich sogar sehr wichtig sei. Natürlich weiß ich theoretisch, dass er den Mord zutiefst bereut, aber von diesen Gefühlen schwarz auf weiß in einer Zeitung zu lesen und zu merken, dass sogar der ansonsten sehr routiniert wirkende Reporter, der diesen Text verfasst hat, berührt und betroffen war, hilft mir irgendwie, wirkt irgendwie erleichternd auf mich. Auch das zeigt mir, dass Claus die Wahrheit sagt, dass ich ihm wirklich vertrauen kann. Denn es ist erschreckend, sich all diese schrecklichen Worte zu vergegenwärtigen, die Mord definieren: niedrige Beweggründe, heimtückisch und grausam, besondere Verwerflichkeit. Es ist fast unmöglich, einen Menschen, den man liebt, mit solchen Begriffen in Verbindung zu bringen. Und es ist erschreckend zu wissen, dass er, dass sein Handeln von einem Gericht so bewertet und eingestuft worden ist.
Claus hat nach Ansicht des Gerichts keinen Totschlag begangen. Als Totschlag wäre die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit dann eingestuft worden, wenn er Elke beispielsweise mitten im Streit niedergeschlagen hätte, als sie sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen, als sie sich anschrien und viele Emotionen im Spiel waren – also bei einer Tat im Affekt. Dann wäre Elke nicht »arg- und wehrlos« gewesen – zumindest aus juristischer Sicht. Die Begriffe Arg- und Wehrlosigkeit spielen bei der Beurteilung der Tat eine große Rolle.
Ich verstehe zwar, was damit gemeint ist, kann es aber nicht wirklich nachvollziehen.
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