Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
bewusst.«
Den Blick bis zum Horizont schweifen lassen zu können, anstatt jahrelang eine mit Nato-Draht bewehrte Mauer anzustarren – ein winziges Stück Freiheit in der Gefangenschaft, ein Privileg, das einen wahrscheinlich davor bewahrt, depressiv oder verrückt zu werden. Die Gefahr, hinter Gittern durchzudrehen, ist groß. In der Fachsprache nennt man das einen »erlebnisreaktiven Persönlichkeitswandel durch den Freiheitsentzug und die damit verbundene Änderung des bisherigen Lebens zusammenhangs mit der Folge von Depression und Wahn vorstellungen«. Einfacher ausgedrückt: Haftkoller. Ein seit Langem bekanntes Phänomen, das schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben und sogar erforscht worden ist.
»Ich erinnere mich daran, dass ich nach sieben Tagen morgens in der Zelle aufgewacht bin, nachgerechnet und gedacht habe: So, jetzt ist eine Woche rum. Die war ziemlich schrecklich. Endlos. Und jetzt kommen dann noch etwa dreihundertfünfzig bis vierhundertfünfzig solcher Wochen – im besten Fall –, vielleicht noch viel mehr. Bei diesem Gedanken wird einem sehr flau im Magen. Obwohl mir die Strafe einerseits viel zu milde war, erscheint es andererseits dann plötzlich doch verdammt, verdammt lang, das kann ich dir sagen. Auch wenn sich das jetzt ziemlich wirr und widersprüchlich anhört.«
Immer, wenn mir Claus so etwas erzählt, entschuldigt er sich noch im gleichen Atemzug dafür.
»Ich weiß, ich hatte das und noch viel Schlimmeres verdient – ein dunkles Kerkerloch oder den Tod. Ich weiß, ich hatte und habe nicht das Recht, mich über solche Kleinigkeiten zu beklagen. Ich weiß, ich hätte solche Gedanken gar nicht haben dürfen, aber ich habe versprochen, dir gegenüber ehrlich zu sein. Und das war es, was wirklich in mir vorgegangen ist.«
Claus plagten und plagen Schuldgefühle, weil er unter seiner Strafe gelitten hat, weil es ihm schwerfiel, die Haftbedingungen zu ertragen, obwohl er sich das alles doch selbst zuzuschreiben hatte, obwohl er es doch »verdient« hatte, zu leiden. Ich sage ihm in solchen Fällen, dass ich ihn verstehe und dass er damit aufhören soll, sich wegen seiner Gefühle im Knast Vorwürfe zu machen. Dass es wohl jedem so gehen würde, wenn er sich plötzlich im Gefängnis wiederfindet und weiß, dass er dort die nächsten Jahre bleiben muss.
Es ist Montag, neun Uhr dreißig, Beginn der großen Redaktionskonferenz. Einmal pro Woche kommen alle Mitglieder der Frauenzeitschrift, für die ich arbeite, zusammen. Wie bei solchen Meetings üblich, bringen wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand, was die aktuelle Ausgabe betrifft. Wie gut sind die Bilder für die große Herbstmodestrecke geworden? Mit welchen Fotos könnte man die Seiten über Jobsuche im Netz und richtige Bewerbungsstrategien im Internetzeitalter bebildern? Wer kann den grottenschlechten Text über die Städtereise nach Helsinki umarbeiten und dazu außerdem Reise- und Hoteltipps für den Serviceteil recherchieren, den die freie und völlig unfähige Autorin des Artikels vergessen hat? Und so weiter und so fort. Natürlich werden dabei auch neue Themen für spätere Hefte vorgeschlagen und be sprochen. Ich bin gerade ziemlich genervt, weil ich soeben erfahren habe, dass sich die Redaktionsleiterin für das Novemberheft von mir schon wieder eine große Geschichte oder besser noch ein Sonderheft Depression wünscht und meine Alter-Hut-Einwände einfach vom Tisch gewischt hat. Ich seufze leise und grüble darüber nach, über welche Aspekte dieses abgenudelten Themas noch nicht hundert Mal berichtet worden ist. Darum bin ich nicht ganz bei der Sache und höre der Ressortleiterin Reportage, die gerade über irgendwelche Probleme mit einem schon länger geplanten Thema spricht, nur mit halbem Ohr zu. Ich schrecke erst hoch, als der Satz »Das wäre doch was für Kristin« zu mir durchdringt. Meine Redaktionsleiterin blickt mich an.
»Du hast dich doch erst neulich darüber beklagt, dass du nur noch am Schreibtisch sitzt und Texte redigierst oder Sonderhefte konzipierst. Und du hast gesagt, dass du wieder mal raus willst für ’ne längere Geschichte.«
»Ja, habe ich«, sage ich vorsichtig, denn ich habe keine Ahnung, worum es geht.
»Dann ist es geritzt. Kristin geht in den Knast.«
Ich verschlucke mich, alle lachen, die Kollegin neben mir klopft mir auf den Rücken.
»Ist ja nur für ’n paar Tage«, sagt die Ressortleiterin und lächelt mir zu.
»Wenn ich dich rausschicke, verzeihst du mir
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