Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
sondern in Wirklichkeit. Ich werde den Gefängnisboden unter meinen Schuhen spüren, werde Gitterstäbe berühren, werde die Luft – die »gesiebte Luft«, wie es immer so schön heißt – einatmen.
»Es ist für mich wie eine Reise in deine Vergangenheit«, habe ich zu Claus gesagt, als ich ihm von meinem Auftrag erzählte.
»Hm«, machte er bloß.
»Ich glaube, das hilft mir, dich besser zu verstehen. Alles besser zu verstehen. Weißt du, was ich meine?«
»Hm.«
»Was ist denn, warum hmst du denn die ganze Zeit?«
»Hm.«
»Nun sag schon!«
»Weißt du, ich verstehe natürlich, dass du dich so intensiv mit der ganzen Sache auseinandersetzt, dass du dich so – so sehr damit beschäftigst …«
»Aber?«
»Aber ich habe Angst, dass es vielleicht zu viel ist. Dass es unserer Beziehung schadet, uns schadet. Und dir schadet.«
»Wieso sollte es mir schaden?«
»Deine Schlafprobleme, die dauernden Magenschmerzen, der Husten, den du nicht loswirst …«
»Und du denkst, das ist alles psychosomatisch?«
»Na ja, könnte doch sein.«
»Quatsch.«
Jetzt, während der Zugfahrt in den Frauenknast, überlege ich, dass das alles vielleicht doch kein Quatsch ist. Claus’ Vergangenheit belastet mich. Mehr, als ich zugeben will, und sehr viel mehr, als ich es mir anfangs, kurz nach seinem Geständnis, vorstellen konnte. Kürzlich kam mir der Gedanke: Ich trage ein dunkles Geheimnis mit mir herum . Das klingt ganz schrecklich, nach einem Roman, in dem Teenager-Vampire die Hauptrolle spielen, aber es fühlt sich für mich wirklich so an. Ein dunkles Geheim nis, das mein Leben irgendwie verdüstert und meine Seele auch.
Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wie ich damit fertigzuwerden versuche. Meine Idee war ja, sich offensiv damit auseinanderzusetzen und mit Claus oft und viel darüber zu sprechen. Ich will verstehen, was passiert ist, will es dann aufschreiben und versuchen, auf diese Weise irgendwann, irgendwie damit leben zu können. Nein, nicht irgendwann, irgendwie, sondern möglichst bald und möglichst gut. Ich will Kontrolle gewinnen. Ich möchte nicht, dass Claus’ Vergangenheit mein Leben und unsere Beziehung bestimmt. Ich will selbst kontrollieren und mich nicht kontrollieren lassen. Und das bedeutet in meinen Augen, dass ich mich der Tat und allem, was damit zusammenhängt, stellen muss. Ganz mutig, Braveheart -mäßig – so wünsche ich mir das zumindest.
Claus hatte nach seiner Haft zwei Freundinnen – es gab also nach seiner Zeit im Gefängnis zwei Frauen vor mir. Beide sind, soweit ich weiß, ganz anders mit seiner Vergangenheit umgegangen, nachdem sie davon erfahren hatten. Beide scheinen es wie ich akzeptiert zu haben, beide sind bei ihm geblieben. Sie haben jedoch selten oder sogar nie Fragen gestellt; eine hat niemandem, die andere nur ihrer Mutter davon erzählt. Seiner letzten Freundin war es offenbar extrem unangenehm, wenn er von sich aus etwas dazu sagte, und zwar so sehr, dass es zwischen den beiden zu einer Art Tabuthema wurde. Das, so meinte Claus einmal, sei für ihn zwar auch keine leichte Situation gewesen, denn seine Vergangenheit sei nun mal ein Teil von ihm; aber er habe es natürlich akzeptiert, so wie er jetzt auch meine Vorgehensweise akzeptiere und unterstütze. Jeder müsse für sich herausfinden, wie er damit klarkomme, und er werde sein Bestes geben, dabei zu helfen.
Ich denke oft darüber nach, ob die Verarbeitungsmethode meiner Vorgängerinnen die bessere war. War es wirklich gut, alles zu erfahren? So viele Details zu kennen? Hat mich meine Suche nach Erklärungen weitergebracht? Ist sie nicht langsam schon zu einer Manie und fixen Idee geworden? Wie kann ich erwarten, dass ich etwas verstehe, das nicht einmal Claus selbst erklären kann?
Seit seinem Geständnis auf meiner Wohnzimmercouch, das inzwischen neuneinhalb Monate zurückliegt, sehe ich Claus mit anderen Augen, immer noch. Ich bin unwillkürlich auf Distanz zu ihm gegangen und bin auch dort geblieben – ich bin vorsichtig, warte ab, zügle meine Gefühle, beobachte. Und kämpfe zugleich mit wirren, ständig wechselnden Emotionen. Ich liebe ihn, ich habe Angst, ihn zu lieben, ich habe Angst, einen Fehler zu begehen, ich habe solche Angst – ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll.
Die Beziehungen zu den zwei Frauen vor mir haben nicht allzu lange gehalten, aber das haben meine letzten beiden Beziehungsversuche auch nicht. Ich weiß nicht, ob das Scheitern mit Claus’ Geschichte zu tun hatte oder ob
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