Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
halten. »Eine schöne Aufgabe, wirklich.« Er gab diesen Job selbst dann nicht auf, als er mit dem Wirtschaftsinformatik-Studium anfing. Es gibt nicht viele Häftlinge, die hinter Gittern akademische Weihen anstreben. In Deutschland sind es ungefähr zweihundert – ein erfolgreicher Abschluss bleibt jedoch die Ausnahme. Selbst in Freiburg, wo das Gefängnis in Sachen Bildung als beispielhaft gilt und die Studienbedingungen im Vergleich zu anderen Haftanstalten als geradezu traumhaft beschrieben werden, haben bisher nur sieben Insassen ihr Studium erfolgreich beendet. Kein Wunder – die Knaststudenten müssen ohne Professoren, Unibibliothek, Tutorien und Internet auskommen; Hausarbeiten schreiben sie mit der Hand. Da gerade bei einer Fernuni viele Daten nur übers Internet zur Verfügung gestellt werden, kann man ohne einen zumindest beschränkten Onlinezugang heute kaum noch studieren; selbst die Rückmeldung für das nächste Semester wird da oft schon zum Problem. Claus hat es trotzdem irgendwie geschafft, trotz eines Vollzeitjobs in der Knastbibliothek und der schwierigen Studienbedingungen; immerhin stellte man ihm für sein Wirtschaftsinformatik-Studium einen »getunnelten«, – also einen eingeschränkten und streng kontrollierten – Computerzugang zur Verfügung. »Der Computerraum war zwar nicht gerade auf dem neuesten Stand – und das ist noch höflich ausgedrückt –, aber es ging irgendwie.« Seine Klausuren schrieb Claus unter Aufsicht in einem Studierzimmer in Stadelheim, nur zum Verfassen der Abschlussarbeit und für die Ab schlussprüfung durfte er das Gefängnis verlassen, anfangs nur mit einem Polizisten an seiner Seite.
»Im Knast ist es das Wichtigste, dem Tag eine Regelmäßigkeit und eine Struktur zu geben und nicht wie andere Inhaftierte in den Tag hineinzuleben. Es gab welche, die haben oft zwanzig Stunden am Stück geschlafen. Dafür haben sie die Gitterfenster mit Zeitungspapier abgeklebt; die wollten gar nicht mehr rausgucken. Ich glaube, da wäre ich verrückt geworden. Ich habe mich eben mit Lernen, Sport und Arbeiten über Wasser gehalten.«
Ganz freiwillig war die Arbeit in der Knastbibliothek allerdings nicht – die Gefängnisleitung Stadelheim bestand darauf, dass Claus weiterarbeitete, wohl aus Angst vor Eifersüchteleien und Unfrieden. »Immerhin habe ich auf diese Weise die ganze Zeit etwas verdient, womit ich auch meine laufenden Kosten im Gefängnis abdecken konnte.« Vier Siebtel des Verdienstes werden für die Gefangenen nämlich als Übergangsgeld für die Zeit nach der Entlassung einbehalten, der Rest wird als »Hausgeld« ausbezahlt und darf beispielsweise im Knastladen ausgegeben werden – zum Beispiel für Kosmetika, Zigaretten oder Süßigkeiten.
Seit meinen Recherchen weiß ich, dass Claus in vielen Punkten eine Ausnahmeerscheinung in der JVA war. Sechzig Prozent der rund achtundsechzigtausend Inhaftierten in Deutschland haben keine Berufsausbildung, dreizehn Prozent noch nicht einmal einen Schulabschluss, zweiundsechzig Prozent werden von hohen Schulden geplagt, bevor sie im Gefängnis landen. Die meisten sitzen wegen Diebstahls, Drogendelikten und Raubes ein, für die meisten ist es nicht die erste Haftstrafe; etwa die Hälfte ist nach einem Jahr wieder draußen, zwei Drittel nach zwei Jahren, neunzig Prozent nach vier Jahren, doch die Rückfallquote ist enorm hoch. Ausländer und Muslime sind laut einer Studie der Caritas in deutschen Gefängnissen überrepräsentiert, in einigen Haftanstalten sind etwa zwei Drittel der Häftlinge drogenabhängig. Und nur die wenigsten Inhaftierten verfügen über ein tragfähiges soziales Netz, sie haben also keinen Rückhalt in der Familie oder in einem Freundeskreis, sind nicht Mitglied in Vereinen oder anderen sozialen Gruppen. Und nur eine sehr kleine Minderheit sitzt wegen Mordes ein.
Wieder einmal lasse ich meine Gedanken schweifen und versuche, mich in Claus hineinzudenken. Wie mag es sein, sich in so einem Umfeld wiederzufinden – ein Umfeld, das man früher höchstens aus dem Fernsehen oder aus Zeitschriften kannte, dem man sich nicht zugehörig fühlt, auf das man vielleicht sogar herabgeschaut hat? Mit wem tauscht man sich aus? Wie findet man einen Gesprächspartner, wenn man den meisten intellektuell oder zumindest sprachlich überlegen ist? Wie mag es sich anfühlen, sich zwischen lauter Verbrechern wiederzufinden, wenn man noch nie zuvor mit Kriminellen zu tun hatte – zugleich aber zu wissen, dass man
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