Geliebter Schuft
sinnvolle Weise zu ändern, bot ihnen die Aussicht auf das Stimmrecht einen Funken Hoffnung, eine Möglichkeit, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dies war ein ganz neuer Gedanke, einer, der bis zu diesem Nachmittag im Salon der Duncan-Schwestern nie die ruhige Oberfläche seiner Ansichten über die bestehende Gesellschaftsordnung gestört hatte. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund, als ihm der Gedanke kam, dass es Constance Duncan war, der er es verdankte, dass er nun die Kinderzimmertreppe erklomm.
Die Tür zum Tageszimmer war offen und erlaubte ihm einen Blick auf die Szene. Ein kleines Mädchen mit seitlich vom Kopf abstehenden Zöpfchen stand neben einem umgekippten Stuhl in der Mitte des hell gestrichenen Raumes. Das knallrote Gesicht und die hervorquellenden Augen der Kleinen verrieten, dass sie den Atem anhielt. Eine müde wirkende Frau Anfang Dreißig stand da und betrachtete das Kind mit dem Ausdruck resignierter Erbitterung. Das junge Kindermädchen, rechte Hand der alten Nanny Baxter, der gründe Dame des Kinderzimmers, die schon Max und seine Schwester betreut hatte und nun für die anstrengenderen Seiten der Kinderpflege zu betagt war, stand händeringend da und murmelte beschwörend: »Miss Pammy, atmen ... bitte!«
Max hob das Kind mit beiden Händen vom Boden und hielt es hoch. Erstaunt atmete sie schluchzend ein, und die Augen glitten zurück in die Augenhöhlen. Ihm fiel auf, dass seine Nichte allem Anschein noch nicht eine einzige Träne vergossen hatte. Er hielt die Kleine fest, bis ihre Gesichtsfarbe wieder normal war, dann stellte er sie auf den Boden.
»Pammy, mir scheint, bei dir stimmt etwas nicht«, bemerkte er liebevoll. Seiner Nichte verschlug es die Sprache. Sie schaute zu ihm auf, ihr Daumen fand den Weg in den Mund.
»Es tut mir ja so Leid, dass Sie gestört wurden, Mr. Ensor«, entschuldigte sich die Gouvernante. Sie strich sich eine schlaffe, den Haarnadeln entschlüpfte Strähne aus der Stirn. »Für den Anfall lag kein Grund vor. Sie wollte ihren Buttertoast nicht, deshalb nahm ich ihn sofort wieder weg, und trotzdem ...« Ihr Schulterzucken war Ausdruck unendlicher Hilflosigkeit und Frustration.
Max sah das Kind an. »Es muss sehr unbefriedigend sein, wenn Widerstand gleich beim ersten Einwand zusammenbricht«, bemerkte er. »Es gibt nichts Besseres als einen gerechtfertigten Wutanfall, um Grenzen auszuloten, was soll aber ein kleiner Mensch tun, wenn es keine Grenzen gibt?«
In Amelia Westcotts grauen Augen blitzte Anerkennung auf. »Lady Graham ermutigt das Festlegen von Grenzen nicht eben, Sir.«
»Nein«, sagte er, »das weiß ich. Armes Kind ...« Er lächelte Miss Westcott zu. »Und arme Gouvernante. Ihnen gilt mein Mitgefühl, Madam.«
»Danke, Sir.« Ihre blassen Wangen röteten sich. »Für heute ist es wohl vorbei. Im Allgemeinen schafft sie es pro Abend nur ein Mal.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde ein Wörtchen mit meinem Schwager reden.«
Sie trat erschrocken einen Schritt auf ihn zu. »Nein, nein, Mr. Ensor. Das ist sehr gütig von Ihnen, aber ich möchte nicht, dass Lady Graham den Eindruck bekommt, ich beklage mich über Pammy.«
Er schlug mit den Handschuhen auf die offene Fläche der anderen Hand. Letitia würde sich vielleicht aus Bequemlichkeit, und um ihre Tochter bei Laune zu halten, mit einer Gouvernante abfinden, deren politische Meinung fragwürdig war, doch sie würde niemals dulden, dass irgendjemand, geschweige denn einer ihrer Angestellten, Kritik an dem Kind äußerte. Außerdem war er insgeheim der Meinung, dass es nichts bringen würde, wenn er mit Bertie sprach. Lord Graham hasste Unstimmigkeiten und verschloss die Augen vor jedem sich abzeichnenden Konflikt.
»Nun gut.« Er wandte sich mit einem Nicken zum Gehen.
»Onkel Max.« Pamela meldete sich endlich zu Wort und zupfte ihn am Frackschoß. »Wohin gehst du? Darf ich mitkommen?«
»Ich gehe zum Dinner aus«, sagte er. »Mit einer Dame. Wenn ich ihr jetzt absage, wäre das sehr ungezogen.«
Pamela ließ sich das durch den Kopf gehen. Für den heutigen Abend hatte sie ihr Protestpotenzial erschöpft, sie war gewillt, vernünftig zu sein. »Womöglich denkt sie, ich wäre ... eine Rivalin um deine Zuneigung«, erklärte sie und klatschte triumphierend in die Hände, an denen noch Grübchen zu sehen waren.
Max starrte über den Kopf des Kindes hinweg die Gouvernante an. »Woher, um alles auf der Welt... ?«
»Nanny Baxter liebt Romane über alles, Mr. Ensor«,
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