Geliebter Schuft
möchte?«, fragte Constance. »Ein trauliches Tete-ä-Tete nach so kurzer Bekanntschaft heißt die Dinge ziemlich überstürzen, meint ihr nicht auch? Schon gar, nachdem wir alle unser Bestes getan haben, damit er sich heute sehr unbehaglich fühlte.«
»Wenn du nicht hingehst, wirst du es nie erfahren«, gab die stets praktische Prudence zu bedenken.
»Vermutlich. Es wäre vielleicht recht nützlich, ihn ein wenig über die Gouvernante auszuhorchen«, sagte Constance nachdenklich. »Er müsste einiges über sie wissen.«
Prudence sah ihre Schwester mit halbem Lächeln an. »Ja, sehr nützlich«, pflichtete sie ihr bei. »Schreib also deine Zusage, dann gehen wir hinauf und machen dich schön.«
»Möchte wissen, ob er dich ins Savoy Grill oder ins Café Royal führt?«, überlegte Chastity laut.
»Ins Café Royal«, sagte Prudence und schüttelte den Brief mit Constances Antwort, um die Tinte zu trocknen, nachdem sie ihr das Schreiben abgenommen hatte, damit sie ihre Absicht nicht ändern konnte. »Jede Wette. Obwohl«, fügte sie nachdenklich hinzu, »er eher ein Savoy-Typ ist. Das verraten Kleidung und Haltung ganz deutlich. Aber das Royal ist für ein stilles, intimes Dinner besser geeignet. Andererseits ist The Grill für einen Lunch am besten.«
Ihre Schwestern überließen sie ihren Überlegungen. In diesen Dingen behielt Prudence immer Recht.
Und Prudence hatte sich bereits eine Meinung gebildet. »Wir ziehen dich für das Café an.« Sie faltete das Schreiben zusammen und übergab es dem geduldig wartenden Jenkins. »Hier, Jenkins. Geben Sie Acht, dass der Bote den richtigen Brief bekommt.«
»Aber, Miss Prue!«, protestierte er in würdiger Entrüstung.
»Nur ein Scherz, Jenkins.« Sie warf ihm einen flüchtigen Kuss zu, der ein mattes Erröten und einen hastigen Rückzug seinerseits zur Folge hatte.
Max Ensor steckte diamantene, zu den glitzernden Manschettenknöpfen passende Kragenknöpfe in den hohen Eckenkragen seines Abendhemdes. Sein Kammerdiener wartete mit dem rot gefütterten Opernmantel und dem schwarzen Seidenzylinder an der Tür.
»Ich glaube, das reicht.« Max zupfte rasch seine Frackschöße zurecht und hielt einen schwarz beschuhten Fuß ans Licht. Dank Marcels Champagnerpolitur war er spiegelblank. »Was für ein Glanz, Marcel.« Max, der sich und seinem Diener gegenüber bereitwillig eingestand, dass ihm Eitelkeit nicht fremd war, liebte es ebenso, über sich und über Marcels förmliche Detailbesessenheit in Sachen Garderobe zu spotten.
»Ja, Sir.« Der Mann verbeugte sich und bewunderte dabei mit dem typischen Stolz des Kammerdieners den Sitz der Jacke auf den breiten Schultern seines Herrn. Geradezu andächtig legte er ihm den Mantel um und strich ihn mit einer nervösen kleinen Bewegung glatt. »Soll ich eine Droschke rufen, Sir?«
»Nein, es ist ein schöner Abend. Ich laufe bis zum Manchester Square und nehme mir dort einen Wagen.« Er griff nach seinen weißen Handschuhen. »Später als ein Uhr wird es sicher nicht.«
»Sehr wohl, Sir.« Der Kammerdiener verbeugte sich, und Max verließ das Schlafzimmer.
Er durchschritt den Flur des Hauses der Grahams und strebte der breiten Treppe zu. Als er den Fuß der schmaleren, zur Kinderzimmeretage führenden Treppe passierte, ließ ihn ein lautes, von schrillem Zorngeschrei gefolgtes Poltern innehalten. Eine matte Stimme sagte: »Wenn du es nicht möchtest, Pamela, nehme ich es wieder fort. Es gibt keinen Grund für Tränen.«
Das Geheul hielt unvermindert an und brach dann plötzlich ab. Die nun folgende Stille ließ eine merkwürdige Spannung ahnen. Dann hörte man wieder die erschöpfte Stimme: »Bitte, Pammy, lass das.«
Max hatte Miss Westcott noch nie richtig wahrgenommen. Er musste mehrmals am Tag an ihr vorübergegangen sein und war ihr ganz sicher begegnet, wenn sie ihren Schützling jeden Nachmittag in den Salon zu Lady Graham brachte, doch wäre er in Verlegenheit geraten, hätte er ihr Äußeres beschreiben sollen. Die matte Resignation ihres Tones aber weckte seine Aufmerksamkeit. Letitias Umgang mit der Gouvernante und die nachsichtige Haltung seiner Schwester ihrem Kind gegenüber ließen ihn argwöhnen, dass das Leben von Miss Westcott in diesem Haus die reinste Hölle sein musste.
Kein Wunder, dass gebildete Frauen wie Miss Westcott sich von den Zielen der Frauenbewegung angesprochen fühlen, dachte er, als er die Treppe zum Kinderzimmergeschoss hinaufging. Unterdrückt und nicht imstande, ihr Leben auf
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