Geliebter Tyrann
leise.
»Der Junge bildet sich also ein, er wäre schon ein Mann«, meinte Abe lachend.
»Ja, das stimmt.« Isaac griff Abe so schnell an, daß Abe nicht einmal den Ansatz dieser Bewegung erkannte. Er war an ein fügsames, tolpatschiges Kind gewöhnt. Er hatte übersehen, daß in diesem Alter aus Kindern Männer wurden.
Als Abe die Faust seines Bruders in seinem Gesicht spürte, war er zunächst so verblüfft, daß er gegen die Steinwand zurücktaumelte. Nach Atem ringend richtete er sich wieder auf. Nun war er genauso zornig wie Isaac. Er dachte nicht mehr daran, daß er mit seinem eigenen Bruder kämpfte.
»Paß auf!« schrie Nicole, als Abe mit dem Messer ausholte. Die Klinge bohrte sich in Isaacs Schenkel, und Abe zog das Messer nach oben und fügte seinem Bruder einen tiefen, langen Schnitt zu.
Isaac wich keuchend vor dem Messer zurück. Der Schnitt war so tief, daß er stark blutete. Er packte Abes Handgelenk und zwang seinen älteren Bruder in die Hocke. Das Messer fiel zu Boden. Isaac stürzte sich darauf wie eine Katze. Abes Arm schwang nach vorn. Er versuchte, Isaac das Messer wieder zu entreißen, und dann spürte er, wie es ihm in die Schulter schnitt
Er sprang zurück, suchte Schutz an der Wand bei der Tür, die Hand gegen die verwundete Schulter gepreßt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. »Du willst sie für dich behalten, nicht wahr?« sagte er durch zusammengepreßte Zähne. »Du kannst sie haben!« Er drehte sich rasch um und schlüpfte durch die offene Tür nach draußen. Er warf die Tür hinter sich zu, und Nicole und Isaac hörten, wie draußen der Riegel vorgeschoben
wurde.
Isaac humpelte zur Tür und machte einen schwachen Versuch, sich mit seinem Körper dagegen zu werfen. Sein Bein blutete stark, und der Wundschock stellte sich ein.
»Isaac!« rief Nicole, als sie sah, wie er sich mit geschlossenen Augen gegen die Tür lehnte. »Schneide mich los, und ich helfe dir. Isaac!« rief sie nochmals, als er sie nicht zu hören schien.
Einen roten Nebel vor Augen, taumelte Isaac auf sie zu und hob seinen Arm zu den Stricken hinauf, mit denen ihre Hände gefesselt waren.
»Schneide sie durch, Isaac«, ermunterte sie ihn, als er zu vergessen schien, wo er war und was er tun mußte.
Er nahm noch einmal seine ganze Kraft zusammen und sägte an den Stricken, die zum Glück halb verrottet waren. Als der Strick sich von Nicoles Handgelenken löste, brach Isaac auf dem schmutzigen Boden der Hütte zusammen. Nicole fiel auf ihre Hände und Knie. Rasch löste sie den Knoten der Fessel an ihren Fußknöcheln.
Abes blutiges Messer lag auf dem Boden. Rasch nahm sie es auf, zerschnitt ihr Hemd, zerriß es in Streifen und schnitt dann Isaacs Hose auf, damit sie an die Wunde herankam. Es war ein tiefer, aber sauberer Schnitt. Sie wickelte den Stoff fest um seinen Schenkel, damit die Blutung aufhörte. Isaac schien sich in einem Schock zu befinden; er sagte nichts, er bewegte sich nicht. Als sie sein Bein verbunden hatte, gab sie ihm einen Becher voll Wasser zu trinken; doch er wollte ihn nicht annehmen.
Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. Sie setzte sich nieder, lehnte sich gegen die Steinwand und zog Isaacs Kopf in ihren Schoß. Die Berührung schien ihn zu beruhigen. Sie strich ihm das dunkle Haar aus der Stirn und lehnte dann ihren Kopf gegen die Wand. Sie waren in einer Steinhütte eingesperrt wie in einem Gefängnis. Sie hatten nichts zu essen, keine Vorräte irgendwelcher Art. Sie befanden sich auf einer einsamen Insel, wo niemand sie finden konnte; doch Nicole fühlte sich plötzlich sicherer als am Tag zuvor. Sie schlief ein.
14
Die Simmons-Farm befand sich zwölf Meilen flußaufwärts von der Armstrong-Plantage entfernt. Es war ein wertloses Stück Land, steinig und unfruchtbar. Das Haus war nicht viel mehr als eine Hütte- klein, schmutzig, mit einem Dach, das leckte wie ein Sieb. Der Hof aus gestampftem Lehm war mit Hühnern, Hunden, grunzenden Ferkeln, einer Muttersau und auch mit mehreren kaum bekleideten Kindern gefüllt.
Travis band die Schaluppe an dem halb verrotteten Landungssteg fest, während Clay ans Ufer sprang und auf das Haus zuging. Die anderen Männer folgten dichtauf. Die Kinder sahen mit ihren stumpfen, teilnahmslosen Augen von ihren Beschäftigungen auf. Sie wirkten nicht wie Kinder, sondern wie gebrochene Kreaturen. Ihr Leben bestand nur aus harter Arbeit unter der Fuchtel eines Vaters, der ihnen täglich predigte, sie wären dazu verdammt, für immer in
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