Geliebter Tyrann
ein dünnes, zerlumptes Baumwollkleid. »Wolltest du mit mir sprechen?«
Sie starrte ihn an wie eine Wundererscheinung. »Bist du einer von diesen reichen Männern? Die in einem großen Haus am Fluß leben?«
Wes wußte, daß er reich war, wenn er sich mit diesem Kind verglich. Er nickte kurz.
Die Kleine blickte scheu um sich, um sich zu vergewissern, daß kein Dritter in der Nähe war. »Ich weiß etwas von Abe«, flüsterte sie.
Sofort beugte Wes ein Knie. »Was?« forschte er.
»Meine Ma hat eine Cousine, eine Lady-Cousine. Das mag man kaum glauben, wie? Diese Cousine kam nach Virginia, und Abe sagte, sie wird uns etwas Geld geben. Er und Pa und Isaac gingen zu einer Party, einer echten Party«, hauchte die Kleine. »Ich bin noch nie auf einer Party gewesen.«
»Was hat Abe dann gesagt?« fragte Wes ungeduldig.
»Er kam nach Hause, und ich hörte, wie er zu Isaac sagte, sie würden eine Lady wegführen und sie verstecken. Dann würde Mamas Cousine ihnen ein paar von Mr. Armstrongs Kühen geben.«
»Von Clays Kühen?« fragte Wes verwirrt. »Wo haben sie diese Lady hingebracht? Wer ist denn die Cousine deiner Mutter?«
»Abe sagte nur, er wisse schon, wo er die Lady hinbringen würde, und er wollte es nicht einmal Isaac erzählen.«
»Wer ist diese Cousine?«
»Ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern. Abe sagte, sie wäre die echte Frau von Mr. Armstrong. Und daß die kleine Lady eine Lügnerin wäre und nur wegnehmen wollte, was eigentlich Abe gehörte.«
»Bianca«, sagte Wes staunend. Er hatte schon von Anfang an den Verdacht gehabt, daß sie hinter dieser Entführung steckte; und jetzt war er sich dessen sicher. Wes starrte auf das Kind hinunter und grinste es dann an »Honey, wenn du älter wärst, würde ich dir dafür einen Kuß geben. Hier.« Er griff in die Tasche und zog eine Zwanzig-Dollar-Goldmünze heraus. »Meine Mutter hat sie mir geschenkt. Diese Münze gehört jetzt dir.«
Er drückte dem Kind die goldene Münze in die Hand.
Sie praßte ihre kleinen Finger darüber und starrte ihn mit offenem Mund an. Außer Flüchen und Schlägen hatte ihr noch nie jemand etwas geschenkt. Für sie war Wesley, der so sauber war und so gut roch, wie ein Engel, den es auf die Erde verschlagen hatte. Ihre Stimme war sehr leise. »Willst du mich heiraten, wenn ich erwachsen bin?«
Wesley grinste breit. »Vielleicht.« Er stand auf. Dann gab er dem Kind einen schallenden Kuß auf die Wange. »Besuch mich mal, wenn du erwachsen bist.« Dann drehte er sich rasch um und ging zur Schaluppe, wo Clay und Travis ihn schon ungeduldig erwarteten. Er war so sehr mit der Neuigkeit beschäftigt, daß Bianca in dieses Komplott verwickelt war und wohl wüßte, wo Nicole steckte, daß er das kleine Mädchen sofort wieder vergaß.
Aber das Kind vergaß ihn nicht. Es stand schweigend zwischen den Büschen und sah zu, wie die Schaluppe vom Steg ablegte. Dreizehn Jahre lang war sie mit ihrer Familie von der Außenwelt isoliert gewesen. Sie hatte nichts anderes gekannt als die Plagen ihrer Mutter und die Niedertracht ihres Vaters. Noch nie hatte ihr jemand ein gutes Wort gesagt, noch nie hatte ihr jemand einen Kuß gegeben. Sie berührte die Wange, auf der sie noch Wesleys Uppen spürte, und drehte dem Fluß dann den Rücken zu. Sie mußte ein Versteck für die Goldmünze finden.
Bianca sah, wie Clay von der Mole zum Haus hinaufrannte, und sie lächelte still vor sich hin. Sie wußte, es würde nicht lange dauern, bis er entdeckte, daß sie hinter der Entführung von Nicole steckte, und war auf die kommende Auseinandersetzung vorbereitet. Sie trank ihre Schokolade aus, aß das letzte Stück Apfelkuchen und tupfte sich dann mit der Serviette den Mund ab.
Sie befand sich im Oberstock in ihrem Schlafzimmer, und sie lächelte, als sie sich darin umsah. In den letzten beiden Monaten hatte es sich sehr verändert. Da war nichts Schlichtes oder Einfaches mehr. Überall hingen Rüschen und Falten aus vielfarbigem Tüll, und die Rosetten am Bett waren vergoldet worden. Auf dem Kaminsims standen kleine Porzellanfiguren. Sie seufzte. Die Einrichtung war noch lange nicht vollständig; doch sie arbeitete daran.
Clay riß die Tür auf, und seine schweren Stiefel klapperten über die Hartholz-Dielen. Bianca zuckte zusammen angesichts solch grober Manieren und merkte sich im Geiste vor, daß sie noch mehr Teppiche bestellen mußte.
»Wo ist sie?« forschte Clay mit harter, drohender Stimme.
»Ich nehme an, du vermutest, daß ich
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