Geliebter Tyrann
der Hinrichtung zu werden. Adele, Eure Mutter, ging hinter Eurem Vater her. Sie war so schön, so königlich. Sie trug ein Kleid aus schneeweißem Leinen, und mit ihren schwarzen Haaren sah sie aus wie ein Engel. Alle Zuschauer hörten auf zu reden, als sie vorbeikam. Jeder konnte sehen, daß ihr Mann stolz auf sie war. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt, also konnten sie sich nicht berühren; doch sie tauschten Blicke, und ein paar Leute in der Menge schnieften, weil diese zwei hübschen Menschen sich offensichtlich liebten. Mein Vater gab mir einen Stoß in die Rippen und sagte, er könne nicht mitansehen, daß so ein herrliches Geschöpf gewaltsam zu Tode gebracht werde. Ich versuchte ihn zurückzuhalten; doch...« Gerard zuckte mit den Schultern. »Mein Vater tut, was ihm gefällt.«
»Wie habt Ihr sie gerettet?« drängte Nicole. »Wie gelang es Euch, durch den Mob an sie heranzukommen?«
»Ich weiß es nicht. Jeden Tag ist die Menge anders gestimmt. Manchmal weint sie, wenn die Köpfe rollen; manchmal lacht sie oder jubelt. Ich glaube, das hängt vom Wetter ab. An diesem Tag war sie wie mein Vater romantisch gestimmt. Ich sah zu, wie er sich einen Weg durch die Menge bahnte, dann Adele bei den Fesseln um ihre Handgelenke packte und sie hineinzog in die Zuschauer.«
»Was taten die Wächter?«
»Der Menge gefiel, was mein Vater tat, und sie beschützte ihn. Sie schloß sich um ihn zusammen wie Wasser. Als die Wachen versuchten, ihm zu folgen, ließen die Leute sie über ihre Füße stolpern und gaben ihnen eine falsche Richtung an.« Er hielt inne, lächelte und trank ein großes Glas Wein aus. »Ich stand auf einer Mauer und konnte von diesem Platz aus alles überblicken. Es war zum Lachen. Die Leute gaben den Wächtern ständig neue Richtungen an, während mein Vater inzwischen mit Adele in aller Seelenruhe zurück zu unserer Werkstatt ging.«
»Ihr habt sie gerettet!« flüsterte Nicole und sah auf ihre Hände in ihrem Schoß hinunter. »Wie kann ich Euch jemals dafür danken?«
»Ihr könnt für uns sorgen«, sagte er rasch. »Wir sind einen langen Weg gekommen.«
»Was mir gehört, soll auch Euch gehören«, sagte Nicole. »Ihr müßt sehr müde sein und wollt Euch sicherlich ausruhen.«
»Moment mal«, sagte Janie. »Das kann noch nicht die ganze Geschichte gewesen sein. Was geschah mit Nicoles Mutter, nachdem Ihr Vater sie gerettet hatte? Warum haben Sie Frankreich verlassen? Wie haben Sie herausgefunden, wo Nicole wohnt?«
»Wer ist diese Frau?« forschte Gerard. »Es gefällt mir nicht, daß Dienstboten mich so behandeln. Meine Frau ist die Herzogin von Levroux.«
»Die Revolution hat alle Titel beseitigt«, erwiderte Nicole, »ln Amerika ist jedermann gleich, und Janie ist meine Freundin.«
»Wie schade«, sagte er, während seine Augen den schlichten Raum abschätzten. Er gähnte mächtig, ehe er vom Tisch aufstand. »Ich bin sehr müde. Habt Ihr in Eurem Haus ein standesgemäßes Schlafzimmer?«
»Ich weiß nicht, ob es standesgemäß ist; aber einen Platz zum Schlafen können wir Ihnen anbieten«, sagte Janie in feindseligem Ton. »Im Speicher wohnen die Zwillinge und wir drei Frauen. In der Mühle drüben haben wir noch ein paar freie Betten.«
»Die Zwillinge?« sagte Gerard, während er interessiert die feine Wolle von Nicoles Kleid betrachtete. »Wie alt sind die beiden?«
»Sechs.«
»Es sind nicht eure Kinder?«
»Ich sorge für sie.«
Er lächelte. »Gut. Ich glaube, ich muß mich mit Eurer Mühle abfinden. Ich möchte nicht von den Kindern geweckt werden.«
Als Nicole sich ihren Umhang vom Haken holen wollte, hielt Janie sie zurück. »Du gehst zu deiner Mutter und siehst zu, daß es ihr an nichts fehlt. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Mit einem dankbaren Lächeln wünschte Nicole Gerard eine gute Nacht und ging dann hinauf in den Oberstock, wo ihre Mutter bereits friedlich schlief. Das Gewitter hatte nachgelassen, und Schneeflocken rieselten leise vom Himmel herunter. Als Nicole die warme Hand ihrer Mutter in den ihren hielt und sie betrachtete, wurde sie von Erinnerungen überflutet. Sie sah wieder vor sich, wie ihre Mutter sie hochhob und im Kreise herumschwang, ehe sie zu einem Ball bei Hofe aufbrach; wie ihre Mutter ihr vor dem Einschlafen eine Geschichte vorlas; wie sie die Schaukel anschob, in der sie saß. Als Nicole acht Jahre alt war, ließ Adele für Nicole und sich die gleichen Kleider anfertigen. Der König sagte, eines Tages würden die beiden noch
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