Geliebter Tyrann
Janie einen Koffer vom Boden hochnahm und ihnen folgte.
Im Haus führten sie die Frau zu einem Sessel vor dem Herd,
und Janie goß Tee und Brandy in Becher, während Nicole zu einer Truhe ging, um eine Steppdecke herauszuholen. Erst als Janie den Tee fertig hatte und ihn der erschöpften Frau reichte, hatte sie Zeit, die Fremde genauer anzusehen. Es war, als erblicke sie ein älteres Ebenbild von Nicole. Die Haut der Frau war ohne Falten, klar und makellos; ihr Mund dem von Nicole zum Verwechseln ähnlich- eine Kombination aus Unschuld und Sinnlichkeit. Auch die Augen glichen in Form und Farbe jenen von Nicole, nur waren sie jetzt leer und leblos.
»Gleich wird es Ihnen wärmer sein«, sagte Nicole, während sie die Steppdecke um die Beine der Frau feststeckte, dann hochsah und den eigenartigen Ausdruck auf Janies Gesicht, bemerkte. Nun sah Nicole auch zu der Frau hoch, vor der sie kniete, die Hände noch auf die Decke gelegt. Als sie in die ihr vertrauten Züge sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen, die ihr leise, langsam über die Wangen rollten. »Mama«, flüsterte sie. »Mama.« Sie beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht in dem Schoß der Frau.
Janie sah, daß die ältere Frau weder auf Nicoles Worte noch | auf deren Erschütterung reagierte.
»Ich hatte gehofft...«, sagte der Mann neben ihr, »ich hatte gehofft, sie würde wieder zu sich kommen, wenn sie ihre Tochter sieht.«
Die Worte des Mannes lieferten Janie die Erklärung für den leeren Blick dieser Frau: es waren die Augen eines Menschen, der in seinem Leben nichts mehr sehen wollte.
»Können wir sie zu Bett bringen?« fragte der Mann.
»Ja, natürlich«, antwortete Janie sofort und kniete sich neben ihre Freundin auf den Boden. »Nicole, deine Mutter ist sehr müde. Wir wollen sie hinaufbringen in den Oberstock und dort ins Bett legen.«
Stumm erhob sich Nicole von den Knien. Ihr Gesicht war naß von Tränen, und ihre Augen ließen das Gesicht ihrer Mutter keinen Moment los. Sie war wie in Trance, als sie ihrer Mutter die Treppe hinaufhalf und sie zusammen mit Janie auskleidete, ohne zu merken, daß ihre Mutter kein einziges Wort sprach.
Im Erdgeschoß brühte Janie dann noch mehr Tee auf und belegte Brotschnitten mit Schinken und Käse für den jungen Mann.
»Ich dachte, beide Eltern wären damals umgekommen«, sagte Nicole leise.
Der Mann schlang die Brote hinunter; er war offensichtlich sehr hungrig. »Ihr Vater kam zu Tode. Ich sah, wie er guillotiniert wurde.« Er schien nicht zu merken, wie Nicole vor Schmerz zusammenzuckte. »Mein Vater und ich haben uns die Hinrichtung angesehen. Das tat fast jeder; denn eine andere Unterhaltung hatte Paris damals nicht zu bieten, und es half uns, über die Tatsache hinwegzukommen, daß wir kein Brot hatten. Aber mein Vater ist- wie sagt man dazu?- ein Romantiker. Jeden Tag kam er von den Hinrichtungen nach Hause in seine Schusterei und sagte zu meiner Mutter und mir, was das für eine Verschwendung von schönen Frauen wäre. Er sagte, es wäre eine Schande, zusehen zu müssen, wie die herrlichsten Köpfe in den Korb rollten.«
»Könnten Sie die Geschichte etwas weniger ausschmücken?« sagte Janie, die Hand auf Nicoles Schulter.
Der Mann hielt einen Keramiktopf mit Senf in die Höhe. »Dijon! Das ist angenehm, französische Erzeugnisse in diesem barbarischen Land zu sehen.«
»Wer sind Sie? Wie haben Sie meine Mutter gerettet?« fragte Nicole mit weicher Stimme.
Er biß in ein Stück Käse, das er dick mit Senf bestrichen hatte, und lächelte. »Ich bin Euer Stiefvater, kleine Tochter. Eure Mutter und ich sind ein Ehepaar.« Er stand auf und nahm ihre Hand. »Ich bin Gerard Gautier, nun ein Angehöriger der großartigen Courtalain-Familie.«
»Courtalain? Ich dachte, das wäre Nicoles Mädchenname.«
»Das stimmt«, sagte Gerard und kehrte zu seinem Stuhl zurück. »Es ist eine der ältesten, reichsten und mächtigsten Familien Frankreichs. Sie hätten den alten Mann sehen müssen, den Vater meiner Frau. Ich habe ihn einmal gesehen, als ich noch ein Kind war. Er war so groß wie ein Berg und soll genauso stark gewesen sein. Ich habe gehört, daß sogar der König vor ihm zitterte, wenn er in Wut geriet.«
»Selbst der gewöhnlichste Mann konnte den König zum Zittern bringen«, sagte Nicole bitter. »Bitte, erzählt mir, wie Ihr meine Mutter kennengelernt habt.«
Gerard warf Janie einen abfälligen Blick zu. »Wie ich schon sagte, gingen mein Vater und ich zur Guillotine, um Zeuge
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