Geliebter Tyrann
Zwillinge; denn Adele schien überhaupt nicht älter zu werden.
»Nicole«, sagte Janie, als sie zurückkam. »Du wirst nicht die ganze Nacht an ihrem Bett Sitzenbleiben. Deine Mutter braucht Ruhe.«
»Ich wollte sie nicht stören.«
»ünd du wirst ihr auch nicht helfen können. Wenn du heute nacht nicht schläfst, bist du morgen viel zu müde, um ihr nützlich sein zu können.«
Obwohl Nicole wußte, daß Janie recht hatte, seufzte sie, weil sie fürchtete, ihre Mutter würde wieder verschwinden, wenn sie die Augen schloß. Widerstrebend erhob sie sich vom Bett und küßte ihre Mutter, ehe sie sich abwendete und sich auszog.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang wurde jeder in dem kleinen Haus von schrecklichen Schreien geweckt - Schreien des reinsten Entsetzens. Ais die Zwillinge aus ihren Betten stürzten und zu Janie liefen, rannte Nicole an die Seite ihrer Mutter.
»Mama, ich bin es, Nicole, Nicole! Nicole, deine Tochter. Mama, sei still, du bist in Sicherheit.«
Die vor Entsetzen geweiteten Augen der Frau bewiesen, daß sie Nicoles Worte offenbar nicht verstanden hatte. Obwohl Nicole französisch sprach, hatten ihre Worte keine Wirkung; ihre Mutter hatte immer noch Angst, schrie immer noch, schrie, als würde ihr Leib in Stücke gerissen.
Die Zwillinge preßten sich die Hände auf die Ohren und versteckten sich in den Falten von Janies flanellenem Nachthemd.
»Holt Mr. Gautier«, rief Nicole und versuchte die Hände ihrer Mutter festzuhalten, die mit ihrer Tochter kämpften.
»Ich bin hier«, sagte Gerard vom oberen Treppenabsatz aus. »Ich dachte mir schon, daß sie so aufwachen wird. Adele!« rief er mit scharfer Stimme. Als sie nicht darauf reagierte, gab er ihr eine kräftige Ohrfeige. Sofort rissen die Schreie ab, Adele blinzelte ein paarmal und brach dann schluchzend in Gerards Armen zusammen. Er hielt sie einen Moment, ehe er sie rasch wieder zurück auf das Bett legte. »Sie wird jetzt ungefähr drei Stunden weiterschlafen«, sagte er, erhob sich und wandte sich wieder der Treppe zu.
»Mr. Gautier!« sagte Nicole. »Es muß doch etwas geben, was wir tun können. Sie können nicht einfach Weggehen und sie hier allein lassen.«
Er drehte sich um und sah Nicole lächelnd an. »Es gibt nichts, was Ihr tun könnt. Eure Mutter ist nicht mehr bei Verstand.« Achselzuckend, als bedeutete ihm diese Tatsache nicht sehr viel, ging er die Treppe hinunter.
Nicole nahm in fliegender Hast ihren Morgenmantel vom Haken und raste dann hinter ihm die Treppe hinunter. »Ihr könnt doch nicht einfach so etwas sagen oder Weggehen«, klagte sie. »Meine Mutter hat Schreckliches durchgemacht. Wenn sie sich erholt hat und sich ihrer Umgebung wieder sicher ist, wird sie bestimmt zu sich selbst kommen.«
»Vielleicht.«
Janie kam in das Erdgeschoß herunter, die Zwillinge ihr dicht auf den Fersen. Es herrschte ein stummes Einverständnis, daß die Diskussion verschoben wurde, bis jeder gefrühstückt hatte und die Zwillinge aus dem Hause waren.
Während Janie den Tisch abräumte, wandte sich Nicole Gerard zu: »Bitte, erzählt mir, was mit meiner Mutter geschah, nachdem Euer Vater sie rettete.«
»Sie hat sich nie mehr erholt«, sagte er schlicht. »Jeder glaubte, sie wäre sehr tapfer, als sie zum Schafott ging: doch in Wahrheit hatte sie schon lange den Kontakt zur Wirklichkeit
verloren. Sie hatte Monate im Gefängnis verbracht und mitansehen müssen, wie ihre Freunde nach und nach abgeholt und hingerichtet wurden. Vermutlich hatte ihr Geist sich nach einer Weile geweigert, zur Kenntnis zu nehmen, daß sie das gleiche Schicksal erwartete.«
»Aber dann, als sie in Sicherheit war«, sagte Nicole, »hat das ihr Gemüt nicht beruhigt?«
Gerard betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. »Mein Vater hätte sie nicht retten sollen. Wir gerieten in große Gefahr, weil wir eine Angehörige der Aristokratie in unserem Hause versteckten. An dem Tag, wo mein Vater sie vor dem Schafott rettete, war die Menge auf seiner Seite; doch später hätte uns jeder dem Bürgerkomitee ausliefern können. Meine Mutter weinte jede Nacht vor Angst. Adeles Schreie weckten die Nachbarn auf. Sie erzählten zwar niemandem, daß wir eine Frau versteckten; doch wir fragten uns, wie lange es wohl dauern würde, ehe sie sich nach der Belohnung erkundigten, die für die | Ergreifung der Herzogin ausgesetzt war.«
Während Gerard den Kaffee schlürfte, den Janie ihm vorgesetzt hatte, blickte er Nicole eine Weile lang prüfend an. Im Morgenlicht
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