Geliebter Tyrann
»Das war einmal ein glückliches Haus, voller Leute, die er liebte, und die ihn geliebt haben. Was hat er jetzt? Selbst seine Nichte und sein Neffe leben bei fremden Leuten statt bei ihm. Wir müssen ihm zeigen, daß wir an ihn denken.«
»Aber Travis und ich...«
»Geld! Du bist wie ein Ehemann, der seiner Frau Geld gibt statt Aufmerksamkeit. Clay braucht kein Geld; er braucht einen Beweis, daß jemand an ihn denkt. Er muß das Gefühl haben, daß er nicht allein ist in der Welt.«
Wes stand da und starrte sie an, desgleichen Janie und die Zwillinge. Gerard senkte auf eine träge Weise seine Wimpern, doch sie zuckten nicht.
»Sind das Vermutungen, was Clays Gefühle betrifft?« fragte Wes mit ruhiger Stimme. »Oder überträgst du deine Gefühle auf ihn? Bist du es, die sich einsam fühlt und nach Gewißheit verlangt, daß jemand an dich denkt?«
Nicole versuchte zu lächeln. »Ich weiß es nicht, ich habe keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken. Mit jeder Sekunde, die wir mit Reden vergeuden, steigt das Wasser höher und kommt näher an Clays Tabak heran.«
Da fiel Wes Nicole plötzlich um den Hals und drückte sie an seine Brust. »Sollte ich jemals eine Frau finden, die mich nur halb so sehr liebt wie du Clay liebst, halte ich sie so fest wie dich jetzt und laß sie nie mehr los.«
Nicole schob ihn von sich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich möchte gern ein paar Geheimnisse für mich behalten, bitte. Und zudem zweifle ich nicht, daß du dich genauso lächerlich benehmen wirst, wie Clay und ich es getan haben. Also!« rief sie mit scharfer Stimme. »Laßt uns die Sache organisieren! Du hast nicht zufällig ein paar Schaufeln bei dir, oder?«
Janie löste die Schleife ihrer Schürze, hing diese an einen Holzpflock neben der Tür und nahm statt dessen Wes' Ölzeug.
»Wohin gehst du?« fragte Wes.
»Während ihr beiden am Herd steht und redet, werde ich etwas tun. Zunächst werde ich ein paar Kleider von Isaac besorgen. Ich glaube nicht, daß ich mit nassen Röcken in diesem Regen sehr weit komme. Und dann hole ich Clay.«
»Clay?« riefen Nicole und Wes wie mit einer Stimme.
»Ihr beiden mögt ja glauben, Clay wäre schon ein kranker Mann; doch ich weiß es besser. Er kann genauso eine Schaufel schwingen wie jeder andere auch, und noch hat er ein paar Leute, die sogar für ihn arbeiten. Ich wünschte nur, wir hätten Zeit, auch Travis herzuholen.«
Nicole und Wes standen da und starrten sie immer noch an.
»Wollt ihr Wurzeln schlagen? Nicole, komm mit mir hinüber in die Mühle! Wes, du schlägst Pflöcke an der Stelle ein, wo der Graben ausgehoben werden muß.«
Wes packte Nicole am Arm und trieb sie auf die Tür zu. »Los, eine Menge Arbeit wartet auf uns!«
21
Janie war schockiert, als sie Arundel Hall wiedersah. Im Verandadach war ein großes Loch, und der Boden darunter war überschwemmt. Die Haustür stand halb offen, und der orientalische Teppichläufer war am Rande stockig von Wasser. Sie trat ins Haus und versuchte, die Eingangstür zu schließen. Das feuchte Wetter hatte das Holz zum Quellen gebracht, so daß man die Tür unmöglich zumachen konnte. Sie rollte den nassen Läufer von der Tür weg und blickte dann betroffen die verdorbenen Dielen unter der Tür an. Hier mußten neue Eichenbretter eingesetzt werden.
Sie sah sich mit wachsendem Groll in der Halle um. Die alles durchdringende Feuchtigkeit hatte den Staub und die Abfälle erfaßt, so daß es hier schrecklich nach Moder roch. Janie schloß die Augen und bat im Gebet Clays Mutter um Entschuldigung. Dann ging sie die Halle hinunter zur Bibliothek.
Sie schob die Tür auf, ohne erst anzuklopfen. Sie sah sofort, es war der einzige Raum, der nicht verändert worden war, aber auch nicht gesäubert. Sie stand ein paar Sekunden lang im Türrahmen, während sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnten.
»Ich muß gestorben und in den Himmel gekommen sein«, kam eine leise, verschwommene Stimme aus einer Ecke. »Meine schöne Janie trägt Männerhosen. Glaubst du, du wirst damit eine neue Mode schaffen?«
Janie ging zum Schreibtisch, zündete eine Lampe an und drehte die Flamme hoch. Sie hielt erschrocken die Luft an, als sie Clay erblickte. Seine Augen waren rot, sein Bart struppig und schmutzig. Vermutlich hatte er sich seit Wochen nicht mehr gewaschen.
»Janie, Mädchen, würdest du mir bitte den Krug vom Schreibtisch herüberreichen? Ich wollte ihn mir selbst holen; aber mir scheint, dazu fehlt mir die
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