Gelinkt
als jemand hinter ihrem Rücken sagte: »Da bist du ja, Liebste! Wie wär’s mit einem Glas Weißwein?« Sie drehte sich um und sah erstaunt Harry Kennedy da stehen, zwei Gläser Wein in den Händen und ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. »Das Spektakel geht erst in der Pause richtig los, was?«
Die Überraschung war nicht gerade angenehm. Eine zufällige Begegnung mit irgendeinem alten Freund, Kollegen oder Bekannten, der sie erkennen würde, hatte sie schon lange gefürchtet. Nun war es dazu gekommen, und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Wie festgewurzelt stand sie da mit wild klopfendem Herzen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, und senkte den Blick, damit er ihr Erröten nicht bemerkte. Er registrierte die Wirkung, die er erzielt hatte. »Bist du in Ordnung? Es tut mir leid … Ich hätte nicht …«
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»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. Es war nicht unwahrscheinlich, daß man sie überwachte. Und in dem Fall würden ihre Reaktionen auf diese Begegnung morgen aktenkundig sein. Harry sprach eilig, um ihr zu ersparen, ihrerseits was zu sagen. »Ich wußte, du würdest dir den Freischütz nicht entgehen lassen. Mannomann, was für eine Inszenierung, nicht zu glauben, oder? Und diese Bäume! Echt der Gipfel! Aber eine herrliche Stimme hat er, das ja.«
»Was machst du hier, Harry?« sagte sie besonnen und ruhig.
»Ich habe dich gesucht, mein süßes Kind.« Er reichte ihr ein Glas, und sie nahm es. »Es tut mir leid, daß ich dich so überfallen habe.«
»Ich verstehe nicht, du …«
»Ich wohne hier«, sagte er.
»Im Osten?« Sie nahm einen Schluck Wein, ohne ihn zu schmecken. Sie wußte kaum, was sie tat. Sie wußte nicht, ob sie weiterreden oder ihn vollkommen schneiden sollte und einfach weggehen.
»Für ein Jahr. Ein Professor von der Charité war in London und hat sich angesehen, was wir in der Klinik machten. Sie haben mich eingeladen, ein Jahr lang hier zu arbeiten. Ein Gehalt zahlen sie nicht, aber ich habe mir von einer Stiftung ein Stipendium ergaunert … Genug, hier ein Jahr lang zu leben. Ich war froh, diesen Idioten in London zu entkommen, und wahrscheinlich war auch die Klinik froh, mich loszuwerden.«
»Hier in Ost-Berlin?« Sie nahm noch einen Schluck Wein.
Sie brauchte die Stärkung und nahm die Gelegenheit wahr, ihn sich genau anzusehen. Er sah noch jünger aus, als sie sich seiner erinnerte. Und sein welliges Haar noch welliger, sein zerknautschtes Gesicht noch zerknautschter – während er nun besorgt ihre nächste Reaktion abwartete.
»Ja. In der Charite. Und ich wußte, daß du dir den Freischütz nicht entgehen lassen würdest. Ich bin zu jeder
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Aufführung hiergewesen … Ich liebe dich, süße Fiona. Ich mußte dich einfach finden.« Wieder hielt er inne.
»Du bist zu jeder Aufführung hiergewesen?«
»Du hast einmal gesagt, der Freischütz sei deine Lieblingsoper.«
»So wird’s wohl gewesen sein«, sagte sie. Sie war sich dessen nicht mehr sicher. Sie wußte nichts mehr mit Sicherheit.
»Bist du wütend auf mich?« fragte er. Wie ein West-Berliner sah er aus in seinem schwarzen Anzug mit Fliege.
Dies war ein anderer Harry Kennedy als der, den sie zuletzt in London gesehen hatte. Vorsichtig und fast schüchtern. Jedoch der Stolz und das Vergnügen, sie wieder aufgespürt zu haben, gewannen nach und nach die Oberhand.
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie.
Ihre distanzierte Art machte ihm plötzlich angst. »Gibt es einen anderen?«
»Nur meinen Mann in London.«
Es war, als hätte man ihm eine Last von den Schultern genommen. »Als ich erfuhr, daß du ihn verlassen hast, wußte ich, daß ich dich finden mußte. Du bist die einzige, die ich je geliebt habe, Fiona. Du weißt das.« Das war keine Mitteilung.
Es war eine Grundsatzerklärung.
»Es ist hier nicht wie in London«, sagte sie unbeholfen, noch immer bemüht, sich mit der Tatsache abzufinden, daß er da war.
»Sag, daß du mich liebst.« Er hatte soviel Mühe auf sich genommen, er erwartete mehr von ihr.
»Bitte nicht. Es ist nicht so leicht, Harry. Ich arbeite hier für die Regierung.«
»Ist mir vollkommen gleichgültig, für wen du arbeitest.«
Warum wollte er nicht verstehen? »Ich bin übergelaufen, Harry.«
»Ist mir vollkommen egal, was du gemacht hast. Wir sind wieder zusammen. Allein darauf kommt’s mir an.«
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»Bitte, versuch doch zu verstehen, was alles auf dem Spiel steht.«
Nun, zum ersten Mal, beruhigte er sich soweit, sie anzusehen und
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