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Gelinkt

Gelinkt

Titel: Gelinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Len Deighton
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hatte geben wollen, starb ihm auf den Lippen. »Wollen Sie’s wirklich wissen? Es könnte sein, daß sich’s um eine schizophrene Reaktion auf die Pubertät handelt, aber um das mit Sicherheit diagnostizieren zu können, wäre jemand erforderlich, der auf dem Gebiet mehr Erfahrung hat als ich.«
    »Weiß ihr Vater, daß Sie das denken?«
    »Ich weiß nicht, weshalb ich’s Ihnen gesagt habe … Nein, es ist noch zu früh, Greg damit zu kommen. Das ist schließlich ein verdammt schwerer Brocken für die Eltern. Ich will mit

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    jemand über sie reden. Ich wollte arrangieren, daß ein Spezialist sie sich mal ansieht, ohne daß sie was merkt.« Er warf Fiona einen verstohlenen Blick zu. »Jetzt bin ich dran, Vermutungen über Sie anzustellen. Ich wette, Sie sind Studentin der Philosophie. Habe ich recht, Miss …?« sagte er mit breitem Grinsen.
    »Mrs. Samson. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.«
    »Kein Spaß? Aber das kann doch nicht wahr sein. Zwei Kinder: Sie müssen noch sehr klein sein. Mein richtiger Name ist Harry Kennedy. Schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs.
    Samson. Ja, das Mädchen wird vielleicht doch noch zu Verstand kommen. Ich habe solche Fälle schon erlebt. Noch besteht keine Ursache, ihre Eltern zu ängstigen. Drogen sind’s nicht. Jedenfalls bete ich zu Gott, daß es keine Drogen sind. Sie hat Schwierigkeiten in der Schule. Keine Leidenschaft für die Wissenschaften. Sie mag Partys, Musik, Tanzen; so war sie schon als kleines Mädchen. Sie liest nicht gerne. Ich könnte ohne Bücher nicht leben.«
    »Ich auch nicht.«
    »Sie haben überhaupt niemanden zum Zug begleitet, stimmt’s?« sagte er plötzlich, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
    »Nein.«
    »Was haben Sie also am Bahnhof gemacht?«
    »Ist das wichtig?«
    »Ich bin sehr neugierig. Aber es war mein Glück, daß Patsy Sie angesprochen hat. Sie haben mich auf den ersten Blick interessiert.«
    »Ich wollte nachdenken.«
    »Traurige Gedanken?«
    »Es ist alles relativ. Ich habe ein gutes Leben, keine Klagen.«
    »Sie brauchen was zu trinken.« Sie lachte. »Kann schon sein«, sagte sie.

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    Er fuhr durch Marylebone. Es war wenig Verkehr. Sie hätte etwas sagen sollen, sich direkt nach Hause bringen lassen, aber sie sagte nichts. Sie beobachtete den Verkehr, die grimmigen Gesichter der Fahrer und die endlosen Mengen durchnäßter Leute. Er fuhr auf einen Parkplatz hinter einem gepflegten Apartmenthaus in Maida Vale. »Kommen Sie mit nach oben auf einen Drink«, sagte er.
    »Ich glaube nicht«, sagte sie und rührte sich nicht.
    »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Wie ich Ihnen schon sagte, ist mein Name Harry Kennedy. Ich reagiere allergisch in Sachen Arbeitserlaubnis, aber davon abgesehen bin ich vollkommen harmlos. Ich arbeite an der psychiatrischen Abteilung der St. Basil Clinic in Fulham. Irgendwann werden die mir endlich auch die Arbeitserlaubnis besorgen, und dann werde ich für immer froh und hier glücklich sein.«
    »Oder Sie werden sich anderswo ein neues Tätigkeitsfeld suchen?«
    »Auch das wäre denkbar.«
    »Und Sie sind wirklich Psychiater?«
    »So was würde ich doch nicht erfinden, oder?«
    »Warum nicht?«
    »Der Beruf macht doch jeden kopfscheu, dessen
    Bekanntschaft man vielleicht sucht. Nehmen Sie nur Ihre eigene Reaktion zum Beispiel.«
    »Also ein Drink.«
    »Und dann nach Hause zu Mann und Kindern«, versprach er.
    »Ja«, sagte sie, obwohl die Kinder in der Obhut eines kompetenten Kindermädchens waren und Bernard sich in Berlin aufhielt, wo er drei Tage lang zu tun haben würde.
    Kennedys Wohnung war in der zweiten Etage. Sie folgte ihm die Treppen hinauf. Der Block war in den dreißiger Jahren gebaut worden und hatte – abgesehen davon, daß
    Bombensplitter hier und da ein Stück Granit aus der Fassade

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    gemeißelt hatten – den Krieg unversehrt überstanden.
    »Ich habe diese Wohnung von einem reichen Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten gemietet, der bis zum April nächsten Jahres am Bellevue-Hospital in New York ist. Wenn sie ihm dort seinen Vertrag verlängern, wird er die Wohnung verkaufen wollen.« Die Wohnung war groß. In den dreißiger Jahren kannten die Architekten noch die Unterschiede zwischen Wandschränken und Schlafzimmern. Er nahm ihren nassen Regenmantel und hängte ihn auf den Kleiderständer aus gebogenem Holz im Flur. Dann zog er den Mantel aus und warf seinen Hut auf einen Stapel ungeöffneter Post, der neben einer Vase mit künstlichen Blumen auf

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