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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Zieht sich das Verladen bis nach Mitternacht hin, bekommen wir kalte Abendsuppe und werden am nächsten Tag mit zwei Stunden Verspätung in die Taiga gejagt. Die Norm müssen wir trotzdem erbringen.
    An den Abenden ohne Waggons sitze ich manchmal auf der Pritsche und schreibe Liebesgedichte im Auftrag des zum stellvertretenden Lagpunkt-Chefs aufgestiegenen Gleckler. Er hat sie zum Preis von 100 Gramm Brot pro Vierzeiler bei mir bestellt, um eine Ärztin (eine nicht mehr junge ehemalige Strafgefangene, deren Namen ich vergessen habe) zu becircen. Als er nicht zahlt, beschimpfe ich ihn als Schwein, und er steckt mich für drei Tage in den Karzer, angeblich, weil ich vor der Baracke in den Schnee gepinkelt hätte. Doch wendet sich dieser Zwischenfall zu meinen Gunsten.
    Unerwartet setzt sich ein Mann für mich ein, der Gleckler abgrundtief hasst. Er heißt (obwohl er kein Wort Deutsch spricht) Hagen und kommt, wie Gleckler, aus Baku. Dort war er ein hoher Planungsboss und hatte offenbar schon vor dem Krieg Streit mit Gleckler. Jetzt leitet er, immer peinlich korrekt auftretend, die Planungsstelle der Bolschaja Kossolmanka. An ihm ist das Lager vergleichsweise spurlos vorübergegangen. Er sitzt, allerdings kahl geschoren, in seiner warmen Joppe am Schreibtisch und stellt die von der Zentrale geforderten Tabellen zusammen – Zahlen, die zum größten Teil unnütz sind. Er errechnet beispielsweise, zu wie viel Prozent die Fläche des Holzlagerplatzes ausgelastet ist, wie viel Festmeter gefällter Bäume auf eine Säge oder ein Beil entfallen, in welchem Verhältnis die Menge der Viereinhalb-Meter-Hölzer zur Menge der Sechseinhalb-Meter-Hölzer steht, und Ähnliches.
    Als Hagen erfährt, dass Gleckler, der jetzt unverdienterweise über ihm steht, mich übers Ohr gehauen und in die Arrestzelle verfrachtet hat, fordert er mich beim Lagpunktchef als zusätzliche Kraft in seine Planungsstelle an. Der aktuelle Chef, ein blasser Unterleutnant namens Taran, der tschuwaschisch oder udmurtisch aussieht, stimmt nur deshalb zu, weil Gleckler Hagens Ansinnen ablehnt. Es wurmt den Unterleutnant, dass sein Stellvertreter alle Entscheidungen an sich reißt, und sieht eine Gelegenheit, ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hat. So werde ich wegen der gekränkten Eitelkeit des natschalniks Gehilfe des Planungschefs.
     
    Leider bleibe ich nur knappe drei Wochen bei Hagen. In dieser Zeit, in der ich auch nicht zu Verladearbeiten verdonnert werde, verbringe ich die Abende meist im Büro, wo es sehr viel angenehmer ist als in der überfüllten und stinkenden Baracke. Von «Planung» kann allerdings keine Rede sein – die wird von oben vorgegeben. Immerhin mache ich mich im Büro mit vielen termini technici der Forstwirtschaft vertraut und erlange aufschlussreiche Einblicke in die Funktionsweise des Lagers. Gelegentlich kommt es zu Gesprächen mit meinem Vorgesetzten. Einmal, als sich Viktor Schtrauchman – der Bruder meines Ex-Partners Robert Schtrauchman – zu uns gesellt, erzählt Hagen von seiner Schulzeit. Er hat noch unter dem Zaren das Gymnasium besucht und ist der festen Überzeugung, dass sich Strenge und Disziplin günstig auf die Ausformung standhafter Charaktere auswirken. Als Kontrast dazu gebe nun auch ich einige meiner Erinnerungen an die verschiedenen antiautoritären Schulen, die ich in Berlin besucht habe, zum Besten. Ich erzähle, dass die Schüler dort über alle möglichen Dinge abstimmten, dass es weder Lehrpläne noch Benotungen gab und dass man die Lehrer mit «Du» anredete, usw. Die ungläubigen Gesichter meiner Zuhörer spornen mich an, noch mehr von den zum Teil kuriosen Einzelheiten zu berichten, so zum Beispiel von dem Abfragen mit Stoppuhr in der Berthold-Otto-Schule oder vom dort üblichen, alle Klassenstufen übergreifenden «Gesamtunterricht». Beiläufig erwähne ich einen russischen Mitschüler Alexej, den Sohn eines weißen Emigranten – eine Unvorsichtigkeit, die mich fast den Kopf kosten wird.

HEIZER IN DER SAUNA
    Eines Tages Anfang Dezember bleibt die Sauna des Lagpunktes unbeheizt – eine grobe Verletzung des Hygienekodexes, ein unerhörtes Ereignis, denn die Brigade, deren Badetag heute ist, bleibt ungewaschen und unentlaust.
    Gemunkelt wird, dass der bisherige Heizer, ein Mann aus Baku, Ratten gefangen und sie verhökert hat. Ob das stimmt, weiß ich nicht. (Hat er ihr Fleisch verkauft, hat er Brühe daraus gekocht?) Fest steht, dass der Chef des Lagpunktes völlig aus dem Häuschen ist und dem

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