Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Tiere werden von allen Dorfbewohnern gehalten. Im Winter streunen sie im Schnee auf dem Holzlagerplatz herum und ernähren sich von der frischen Rinde der angelieferten Kiefern. Mit der Zeit kriegen wir spitz, dass Johannes auch selbst mal ein zwischen den Stapeln herumirrendes Zicklein absticht. Als ich ihm das auf den Kopf zusage, gesteht er es ein und bittet mich, das eine oder andere Stück Fleisch über Nacht in den Brunnen hinabzulassen und es dort – sozusagen im Kühlschrank – aufzubewahren. Dafür steht mir nun wieder eine kleine Provision zu.
Der Seifenklau, den wir in regelmäßigen Abständen wiederholen, ermuntert Epp und mich zu einem noch waghalsigeren Unternehmen. «Man müsste doch herausbekommen», meint Grigori Iwanowitsch eines Tages, «wer von den Leuten, die bei uns ein und aus gehen, ein Spitzel ist.» «Ja, schon», antworte ich, «aber wie?» «Wenn man an den Schrank herankäme, der in Tarans Büro steht … da könnte man ja mal hineinschauen.» Das Büro selbst, in dem auch der techruk manchmal residiert, ist meistens nicht abgeschlossen.
Diese Idee lässt uns tagelang keine Ruhe. In einer stürmischen Nacht wird sie schließlich verwirklicht. Wir bleiben bis lange nach Mitternacht in der Sauna, schleichen uns dann mit klopfenden Herzen durch heulenden Wind und peitschenden Regen ins Kontor, finden die Tür von Tarans Büro tatsächlich unverschlossen, rücken den Schrank mit größter Mühe von der Wand und lösen ein Brett. Drinnen ist ein Wust von Papieren, doch finden wir uns schneller als erwartet zurecht. In fieberhafter Eile durchstöbern wir die Akten der Tscheka-Abteilung und entschlüsseln einige Decknamen. «Dieses Schwein», knurrt Epp, einen Bericht von Gisé überfliegend, und nimmt ein paar Blätter aus dem Aktenordner heraus. Auch ich werde fündig. Erst entdecke ich von orthographischen Fehlern strotzende Berichte mit belanglosem Getratsche («Ruge hat sich lange in der Kantine herumgetrieben» usw.), dann aber stoße ich auf ein Schriftstück, das keine Rechtschreibfehler aufweist. Von Epp zur Eile getrieben, nehme ich es an mich. Dann schichten wir die Ordner wieder auf, befestigen das entfernte Brett, rücken den Schrank an die Wand und stehlen uns davon.
In der Sauna angekommen, lauschen wir lange, ob kein Schritt oder Ruf zu vernehmen ist. Aber kein Laut dringt zu uns, kein Licht blitzt auf. Beruhigt setzen wir uns vor meinem großen Ofen auf den Fußboden und studieren bei flackerndem Feuerschein die mitgebrachten Papiere.
Ich lese: «Der Gehilfe des Planungschefs, Ruge W. E., hat in einem vertraulichen Gespräch am … berichtet, dass er in Berlin eine Schule für antisowjetische Spione und Diversanten besucht hat.» Das kann sich doch nur auf meine Erzählung über die Berthold-Otto-Schule beziehen! Da ich Hagens Handschrift kenne, außer ihm und Viktor Fjodorowitsch aber niemand an jenem Abend zugegen war, muss der Denunziant Schtrauchman sein. Dieser Schuft! Nach dem bewährten NKWD-Rezept hat er aus ein paar Körnchen Wahrheit eine Lüge zusammengebraut, die für mich den Tod bedeuten kann. Ich lese weiter: «Er wurde dort schon seit frühester Kindheit zusammen mit Söhnen weißer Emigranten in allen erdenklichen Geheimdiensttechniken ausgebildet. Der Lehrbetrieb war nicht auf den Erwerb von Kenntnissen, sondern darauf ausgerichtet, die Zöglinge auf schnelle Entscheidungsfindungen in außergewöhnlichen Situationen vorzubereiten …»
Ich schnappe nach Luft. Wenn der Tscheka-Mann diesen Bericht schon gelesen hat, dann gnade mir Gott! Ich ermahne mich, jetzt ruhig Blut zu bewahren, und überlege. Da der Bericht noch hier liegt, hat er ihn jedenfalls nicht in die Opertschek-Abteilung nach Soswa weitergereicht. Sollte mich das Schicksal noch einmal verschont haben?
Ich reiche das Papier zu Epp hinüber. Er liest und fragt: «Was hast du denn da, um Gottes willen, erzählt?» «Eigentlich nichts, nur ein paar Kuriositäten aus der Reform-Schule.» Epp schüttelt den Kopf: «Über Deutschland darfst du gar nichts erzählen. Alles wird verdreht. Die wenden sogar deine kommunistische Vergangenheit gegen dich, weil du im Dienste irgendeines KP-Führers standst, den sie in den Orkus geschickt haben … Und das hier», er wedelt mit dem Papier, «wirf mal gleich ins Feuer.»
Das tue ich. Die Flamme reckt sich einen Augenblick an dem Bogen empor, er verfärbt sich, lodert auf und zerfällt.
Die Sauna ist zwar nicht das Kommunikationszentrum des
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