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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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als «waldgeeignet» eingestuft und erneut auf die Bolschaja Kossolmanka überstellt.

WIEDER IM WALD
    Auf der Bolschaja Kossolmanka will zunächst keiner mit mir zusammenarbeiten. Nicht etwa, weil ich «Deutschländer» bin, sondern einfach, weil ich den Makel des TT-Mannes (Schwerstarbeiter) mit mir herumtrage. So muss mein jeweiliger Partner auch immer die höchste Norm erfüllen.
    Schließlich wird mir der im Schlaf singende Isaak zugewiesen. Er ist ein ST-Mann (mittelschwere Arbeit). Da wir beide schon im Wald gewesen sind, kennen wir uns mit den verschiedenen Koeffizienten aus und wissen, wie man fachgerecht betrügt. Zugute kommt uns, dass man uns jetzt, anders als im ersten Jahr, die uns zustehenden, aber fehlenden Lebensmittel tatsächlich – nach bestimmten Koeffizienten in Mehl umgerechnet – «vergütet». Für jede Übererfüllung der Norm, und sei es nur um zwei, drei Prozent, erhält man eine kleine Pirogge. Bei hundertzwanzigprozentiger Normerfüllung erhält man 800 Gramm Brot.
    Isaak und ich tun alles, um die Norm überzuerfüllen, und versuchen 120 Prozent zu schaffen. Wir feilschen mit dem Polier über den Begriff «Mischwald», der eine Minderung der Norm impliziert, weil für unterschiedliche Holzarten verschiedene Sägen benötigt werden. Wir rechnen nicht durchgeführte Arbeiten ab (Wegebau, Säuberung der Parzellen, Aushacken des Unterholzes) und geben einen überhöhten Prozentsatz von Zedern oder Lärchen in den Brennholzstapeln an. Verräterische Äste und Schadstellen sorgsam verbergend, lagern wir die gefällten Stammabschnitte so, dass wir minderwertiges, also nur zum Verheizen geeignetes Holz als hochwertiges Bauholz ausgeben, und stufen Hölzer, die gerade noch als Baumaterial durchgehen würden, als Eisenbahnschwellen ein. Oder wir lassen die Rundhölzer vorsorglich einen Zentimeter länger und sägen den überflüssigen Zentimeter am nächsten Tag ab – samt dem Stempel des prijomtschik , des Abnehmers. Die Holzscheiben müssen wir schleunigst verschwinden lassen. Verbrennen können wir sie nicht, weil im Sommer und im Herbst kein Feuer im Wald gemacht werden darf.
    Trotz all dieser großen und kleinen Betrügereien müssen wir hart ranklotzen, um die Norm zu erbringen. Eine Pirogge verdienen wir fast jeden Tag, aber 800 Gramm Brot bekommen wir selten. Wir gehören beide nicht zu den Kräftigsten. Nicht nur ich mache manchmal schlapp, auch dem rundgesichtigen Isaak geht bisweilen die Puste aus.
    Insgesamt verstehen wir uns recht gut. Manchmal wechseln wir ein paar Sätze, die man, wenn sie aneinandergereiht wären, als Gespräch bezeichnen könnte. Ich erfahre einiges über die Mennoniten, mit denen ich später noch näher in Berührung komme. Obwohl mir viele Wertmaßstäbe dieser in der Welt verstreuten gläubigen Friesen völlig fremd sind, begreife ich, dass sie sich kaum bereit erklären werden, als Zuträger für die Tscheka-Abteilung tätig zu werden – und dies ist unter den hiesigen Bedingungen sehr wichtig.
    Isaak schwärmt von den Mennonitendörfern im ehemaligen Taurischen Gouvernement, die sich – nach seinen Schilderungen – mit schmucken Häuschen, gepflasterten Straßen und gepflegten Gärten wie schillernde Blumen von ihrer russischukrainischen Umgebung abheben. Auch er geht – wie alle anderen hier – davon aus, dass sich nach dem Kriege wieder alles so einpendelt, wie es vorher gewesen ist. Er zweifelt nicht daran, dass er in sein Heimatdorf zurückkehrt, und plant schon den Umbau seines Hauses und die Erweiterung seines Treibhauses. Bedrängte Menschen weigern sich eben instinktiv, sich künftige Widernisse auszumalen. Ehrlich gesagt, auch ich hoffe, dass ich nach Moskau zurückkehren kann, sobald der Krieg vorbei ist; dass ich mein Studium wiederaufnehmen und mit Veronika neu anfangen kann.
    Die letzten Augusttage vergehen, dann der September. Es fällt Schnee, der Oktober beginnt. Unser Alltag mit den häufigen Zusatzpiroggen wäre erträglich, wenn es nicht die abendlichen Arbeitseinsätze gäbe. Wie eh und je werden ein- oder zweimal wöchentlich ein Dutzend (manchmal auch mehr) Waggons auf das Rangiergleis der Bolschaja Kossolmanka geschoben. Binnen sechs Stunden sollen sie beladen werden. Noch gut, wenn sie um 14 oder 15 Uhr bereitgestellt werden. Dann wird mit Schlägen auf das neben der Wache hängende Stück Schiene ein vorzeitiges Feierabendsignal gegeben. Schlechter sieht es aus, wenn die Waggons erst gegen Ende des Arbeitstages eintreffen.

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