Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
und offenbar kein schlechter, denn er wurde Schichtleiter im Hotel Metropol . Ich erinnere mich an den Sommer 1934, in dem wir fast alle freien Abende im Zentralen Moskauer Kulturpark* (Gorki-Park) verbrachten.
In Deutschland kannte ich nichts Vergleichbares. Unübertroffen war die Größe des Freilichtkinos und des «Grünen Theaters», in dem die Schauspieler auf lebendigen Gäulen über die Bühne ritten. Unübertroffen auch die Gartenarchitektur, deren «Spitzenleistung» ein Stalin-Porträt aus blühenden Blumen war. Komisch, ja sogar lächerlich fand ich nur die den überall herumstehenden Sportlerstatuen sorgfältig aufmodellierten Badehöschen. Längs der Alleen flatterten Fahnen, hingen Losungen, Transparente und Diagramme, prangten in endloser Reihe Porträts: von Politbüromitgliedern, vom Allunions-Bestarbeiter Nikita Isotow, von den Piloten, die vor kurzem die Tscheljuskin-Besatzung aus dem Eismeer gerettet hatten – die ersten Inhaber des gerade gestifteten Titels «Held der Sowjetunion». Es gab etliche Schießbuden, Radiotechnik-Lehrstände, ausgeklügelte Geräte, mit denen man seinen Mut und seine Kraft testen konnte. Besonderer Popularität erfreute sich der Fallschirmturm, von dem man aus 20 oder 30 Meter Höhe einen Sprung imitierte. Darüber hinaus gab es Badegelegenheiten und Bootsverleihe, Tanzflächen und Vortragspodien, Quizecken und Schachveranstaltungen unter freiem Himmel. Einmal nahm ich an einem Simultanspiel teil, das ein Großmeister (ich glaube, er hieß Lewenfisch) an 120 Brettern gab, wurde aber nach 15 oder 18 Zügen vom Maestro mattgesetzt.
Durch Hans Baumgarten lernte ich ein Ehepaar kennen, das mich unter seine Fittiche nahm. Lasar Alexandrowitsch Goryschnikow war der Chef (oder Stellvertreter) der Hauptverwaltung Automobil- und Traktorenbau, was heute, da alle Hauptabteilungen in selbständige Ministerien umgewandelt sind, dem Rang eines Ministers entspräche. Er war 50, groß, ein dunkler Typ mit Vollbart und unheimlichen Augenbrauen, gutmütig, aber wortkarg. Oft, wenn er, meist spät am Abend, vom Dienst nach Hause kam, setzte er sich an seinen Schreibtisch und legte Patiencen.
Lasars Frau Ljuba (richtiger Lebensgefährtin, denn nach einer geschiedenen Ehe hatte er nicht wieder geheiratet) war nur drei Jahre älter als sein Sohn. Sie war in fast allem das Gegenteil von Lasar: deutlich kleiner, rotblond und mollig, sie zwitscherte und trällerte unentwegt. Ljuba sprach etwas Englisch, sodass ich mich von Anfang an mit ihr verständigen konnte.
Die Goryschnikows bewohnten ein einziges Zimmer in einem einstöckigen Haus unweit der Twerskaja, das vor der Revolution ein Bordell beherbergt hatte. Die Liquidierung des Puffs, sagte Lasar Alexandrowitsch einmal spöttisch, sei wenigstens allen Gesellschaftsschichten zugutegekommen: Jetzt wohnten in dem Haus sechs Parteien – Militärs, Schauspieler, Parteiarbeiter, Studenten, Rentner, Ingenieure. Ihm persönlich, fügte er hinzu, wäre es allerdings lieber gewesen, wenn nur zwei Parteien davon profitiert hätten.
Da Goryschnikows Zimmer sehr groß war, wirkte es nicht überladen wie die meisten Moskauer Wohnräume. Wenig Wert wurde auf die Einrichtung gelegt. Der Tisch hingegen wurde selbst bei gewöhnlichen Mahlzeiten mit verschiedensten Tellern, Kristallschalen, geschliffenen Gläsern, silbernen Untertässchen oder ziselierten Löffelchen eingedeckt.
Zum Lebensstil der Goryschnikows gehörte auch die typisch russische Datsche, wo man die Wochenenden und den Sommerurlaub verbrachte. Die Datsche der Goryschnikows bestand aus zwei Zimmern und Terrasse, die sie alljährlich bei einem Bauern in Usowo mieteten. Usowo (heute praktisch ein Stadtteil Moskaus) lag ein Stück hinter Barwicha, wo Stalin und andere Politbüromitglieder ihre Sommerhäuser hatten. Das ganze Gebiet war damals zwar nicht formal, aber faktisch gesperrt. Man verkaufte einfach keine Fahrkarten dorthin, und da es keine privaten Pkws gab und die Moskauer nicht zu wandern pflegten, blieben die Ausflügler den betreffenden Gebieten fern.
Bei den Goryschnikows auf der Datsche ging es genau so zu, wie man es aus den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts kennt. Man aß auf der Veranda, saß abends stundenlang am Samowar und fragte vor dem Schlafengehen den Datschenvermieter, wie morgen das Wetter werden würde. Man sammelte in großer Gesellschaft Pilze und Beeren, riesige Blumensträuße wurden gepflückt, und wenn es übermäßig heiß wurde, spazierte man
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