Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
sitzt in Chicago, einer in Berlin und der dritte, nun ja, der sitzt in Soswa.» Sein Tag beginnt damit, dass er – noch im Bett – einige Suren von Nisami im Original liest. Er kleidet sich, soweit das in Soswa möglich ist, geschmackvoll und berührt fast nichts mit den Händen. «Meine Hände», pflegt er zu sagen, «sind mein Kapital – ich muss sie schonen.» Dies ist ihm, da er nach der Einlieferung ins Lager nur als Arzt beschäftigt war, bis zum Kriegsbeginn auch problemlos gelungen. Als eine Moskauer Direktive aber 1941 verfügte, alle nach Artikel 58 verurteilten Sträflinge bei direkten Arbeiten einzusetzen, und auch Bidshejew zum Bäumefällen in die Taiga geschickt wurde, nahm sich seiner ein krimineller Brigadier an. «Wir», sagte er zu ihm, «sind nicht so dumm wie die Lagerobrigkeit – einen guten Arzt braucht man immer.» Im Winter stellte der Brigadier, ein bekannter Ganove, speziell einen Mann für den Doktor ab, um das Feuer, an dem sich Aschat Bastjatowitsch langweilte, zu unterhalten. Mehr als ein Jahr verbrachte Bidshejew im Wald, ohne auch nur einen Handschlag zu tun, wurde aber in den Tagesabrechnungen der Brigade stets als Bestarbeiter ausgewiesen. Seine Untätigkeit fand erst ein Ende, als sich Wassins Frau eine Blinddarmentzündung zuzog. Da besann sich der Lagerchef auf den hervorragenden Chirurgen. Nachdem Bidshejew die «First Lady» operiert und en passant einige Unzulänglichkeiten im Krankenhaus abgestellt hatte, wurde er stillschweigend wieder in den medizinischen Dienst übernommen. Die Direktive vom Kriegsbeginn war zu dieser Zeit – wie andere Direktiven auch – längst vergessen.
Nach Stalins Tod trägt sich Bidshejew mit dem Gedanken, nach Moskau zurückzukehren. Er ist schon dabei, die Sachen, die er verschenken will, auszusortieren und die zum Mitnehmen bestimmten Bücher zurechtzulegen. Doch seine Rechnung geht nicht auf. Mitten in einer Beratung der Gesundheitsabteilung öffnet sich die Tür, und ein Offizier bellt: «Bidshejew, mitkommen!» Alle Anwesenden sind schockiert, wie kann so ein Schnösel es wagen, sich in diesem Ton an den hochverehrten Doktor zu wenden! Noch mehr sind die Teilnehmer der Beratung und wir alle entsetzt, als sie am nächsten Tag erfahren, dass man Bidshejew in einen Jeep gesetzt, in den Wald gefahren und dort erschossen hat. Wer für diese Tat verantwortlich ist, erfahre ich nie.
Während ich bei der alten Marakulina wohne, lerne ich eine ältere sympathische Polin kennen. Sie heißt Jadwiga Michailowna Jablonska, hat als Politische zehn Jahre Lagerhaft hinter sich und arbeitet jetzt als Rechtsexperte ( juristkonsult ) in der Verwaltung. Sie stammt aus Rostow am Don, wo sie mit einem Studienkameraden, der gleichzeitig mit ihr verhaftet wurde, verheiratet war. Die beiden hatten einen damals zweijährigen Sohn, der nach dem Arrest der Eltern in ein Kinderheim gekommen ist, dessen Spuren sich aber in den Kriegswirren verloren haben. Jadwiga Michailownas Denken und Trachten gilt fast ausschließlich diesem Kinde. Sie ist fest davon überzeugt, dass es am Leben ist, und fährt, seit sie vor einigen Jahren freikam, in jedem Urlaub nach Rostow, um auch die unwahrscheinlichsten Spuren des nunmehr fünfzehnjährigen Burschen zu verfolgen. Sie hat Kontakte zu einer seinerzeitigen Mitarbeiterin des Kinderheims hergestellt, korrespondiert mit mehreren Leuten, die dem Vermissten womöglich begegnet sind, hat aber bei all ihren Anstrengungen bis jetzt nichts erreicht. Sie weiß nicht einmal genau, unter welchem Namen der Kleine damals ins Kinderheim eingeliefert wurde.
Ich gehe manchmal abends zu ihr, spalte Brennholz für sie und höre mir anschließend bei einem Glas Tee die Geschichten über die beiden ersten Lebensjahre ihres Sohnes und über ihre ins Leere laufenden Suchaktionen an.
In dieser Zeit gewinnt auch die Freundschaft mit Ludwig Elfinger mehr und mehr an Gestalt. Ludwig wurde 1915 als unehelicher Sohn eines bayerischen Gutsbesitzers und seines Dienstmädchens geboren, dann vom späteren Mann dieser Bediensteten adoptiert. Er ist in München aufgewachsen, hat bei BMW gelernt und 1932 bei seinem angeheirateten Onkel, dem berühmten Dichter Erich Mühsam, in Britz gewohnt. Von dort ging er als Facharbeiter in die Sowjetunion, war erst in einem Rüstungsbetrieb tätig, kam aber, als alle Ausländer aus der Rüstungsindustrie abgezogen wurden, in ein Werk in Rybinsk, das Prothesen herstellte. 1941 wurde er nach Kasachstan verfrachtet und
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