Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
soweit sie überlebt haben, längst zu Hause sind und sich der westdeutsche Regierungschef um die als Nazis oder Kriegsverbrecher eingestuften Zurückgebliebenen bemüht. Kurz nach dem Adenauer-Besuch wird in Soswa eine Kommission der deutschen Kriegsgräberfürsorge angekündigt. Obwohl die auf den Lagpunkten zugrunde gegangenen Gefangenen ohne viel Federlesens an Ort und Stelle verscharrt worden sind und niemand weiß, wo sie liegen, soll nun plötzlich ein vorzeigbarer Soldatenfriedhof präsentiert werden. Das bringt die Lagerverwaltung nicht in Verlegenheit. Auf einer idyllischen Wiese neben einem Birkenwäldchen werden in Reih und Glied 25 oder 30 Holzkreuze eingerammt und – in Russisch – mit den Namen der angeblich hier Begrabenen beschriftet. Ich erhalte den Auftrag, dieses Terrain zu vermessen, die nicht existierenden Grabstätten zu nummerieren und die Namen – in Deutsch – unter den entsprechenden Zahlen aufzulisten. Die Kommission wird (ohne mich) auf das Gräberfeld geführt, ein paar Wachsoldaten ballern einen Ehrensalut in die Luft, man hält eine kleine Gedenkstunde ab, und die Kommissionsmitglieder reisen mit meinem Plan im Gepäck befriedigt weiter, wahrscheinlich ins nächste Lager, in dem sich das Schauspiel wiederholen wird.
DREI TAGE KASACHSTAN
Die über Urlaubsgesuche entscheidende Lagerverwaltung, die sehr daran interessiert ist, dass qualifizierte Kader in Soswa ansässig werden, bewilligt meine Anfrage für eine Reise nach Kasachstan erstaunlich schnell.
Als ich die Reisegenehmigung erhalte, wird mir regelrecht schwindlig. Ich kaufe mir (von geborgtem Geld) auf dem Markt einen amerikanischen Anzug zum Spottpreis von 1200 Rubel, packe mir einen kleinen Rucksack mit Lebensmitteln und mache mich am 9. oder 10. August 1946 auf den Weg.
In Serow muss ich einen Tag auf den Zug Iwdel – Swerdlowsk warten. Ich übernachte auf dem Bahnhofsvorplatz, wo eine Menge undurchsichtiger Gestalten herumlungern. Bei Nishni Tagil sehe ich, wie die aus Deutschland eingetroffenen Reparationen einfach am Bahndamm abgekippt werden. Viele Kilometer lang liegen da Werkbänke und verbeulte Autos im Dreck, vergammelte Kräne recken ihre Hälse zum Himmel, Fabrikanlagen rosten vor sich hin. Mein (wohl doch noch deutsches) Herz krampft sich zusammen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich denke: Vielleicht, dass diese Art von Enteignung für keinen eine Bereicherung bedeutet.
Auf dem von Menschen überquellenden Bahnhof in Swerdlowsk werde ich nachts Zeuge einer wohl für die Nachkriegszeit typischen Szene. Ein betrunkener Offizier zückt seine Pistole und fuchtelt, sinnlose Bedrohungen ausspuckend, mit ihr herum. «Ihr Etappenschweine», gurgelt er, bös um sich blickend, vor sich hin, «habt euch gedrückt, während wir da vorne verblutet sind. Ich kann euch jetzt alle über den Haufen schießen, mir macht’s nichts aus – bin sowieso schon zigmal gestorben!» Die um den Ausgerasteten Stehenden weichen ängstlich zurück, andere alarmieren die Transportmiliz, die dem Mann erst gut zuredet und ihn dann nach einem raschen Zugriff abführt.
In Swerdlowsk erfahre ich, dass der Schnellzug Moskau – Chabarowsk zwar verkehrt, dass es aber absolut unmöglich ist, einen Platz in ihm zu ergattern. Der Bahnsteig, an dem der Express hält, ist von der Bahnmiliz für Passagiere ohne Fahrkarten abgesperrt. Figuren wie ich, die keine Militärangehörigen oder Regierungsbeamten sind und obendrein kein Geld haben, müssen auf einen unregelmäßig von West nach Ost pendelnden Güterzug ausweichen, der Pjatsotvesjoly (etwa «Fünfhundertundlustig») genannt wird.
Schon bevor dieser Zug, von Moskau kommend, auf ein entlegenes Abstellgleis geschoben wird, ist rings um dieses Gleis alles schwarz von Menschen. Von irgendwoher wissen sie, dass die nach Osten fahrende Bahn hier halten wird. Als der Zug endlich kreischend zum Stillstand kommt, halten die Menschen in den Waggons die Türen von innen zu, die draußen stoßen und prügeln sich vor den wenigen Wagen, aus denen jemand aussteigt. Auch die Dächer und Puffer der Waggons werden besetzt. Säcke und Kisten fliegen herum, Geheul erfüllt die Luft. Hier schreit jemand: «Fedja, komm schon!», dort schreit eine Frau: «Haltet den Dieb!»
Ich kann mich in einen Wagen zwängen, schaffe es sogar, die oberste Pritsche zu erklimmen, schiebe mich förmlich in einen Wust übelriechender Leiber hinein. Mein Nachbar, ein unscheinbarer junger Mann, flucht über mich, fragt aber,
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