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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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alles zuwider ist. Vergeblich versucht Taja, mich an solchen Tagen zu trösten.
    Bei alledem verblüfft mich aus heutiger Sicht, dass ich mich offenbar schon so weit mit der Rechtlosigkeit abgefunden habe, dass ich eine Rückkehr nach Moskau oder gar nach Deutschland nicht einmal in Erwägung ziehe. Allerdings sind Taja und ich seit dem Frühjahr 1953 zunehmend davon überzeugt, dass keine Verschlimmerung der Verbannungsbedingungen, keine erneute Kasernierung oder gar eine weitere Ausweisung nach Kamtschatka, Tschukotien oder dergleichen zu befüchten sind. Über eine solche Möglichkeit haben wir vorher häufig gesprochen. Meine gute Taja dachte keineswegs daran, mich in diesem Falle im Stich zu lassen, hielt es aber für vernünftiger, nicht zu heiraten, damit sie mir als Freie folgen könne, anstatt – als Ehefrau – selbst von den Repressalien betroffen zu sein. Nun reift die Überzeugung, dass einer offiziellen Eheschließung und dem Wunsch nach einem gemeinsamen Kind – Taja ist 29 – nichts mehr im Wege steht. So kann man mit einigem Recht sagen, dass unser Sohn Jewgeni (Shenja) sein Auf-die-Welt-Kommen dem Tode Stalins verdankt.
    Zunächst klappt es mit dem Kinderkriegen nicht ohne weiteres – Taja wird nicht sofort schwanger. Wir ziehen die mit uns befreundete Ärztin Anastasja Petrowna zu Rate, befolgen ihre mit komischer Wissenschaftlichkeit gegebenen Empfehlungen hinsichtlich ausgefallener Liebesstellungen und setzen unsere Hoffnungen schließlich in eine Bäderkur in Bulduri (nahe Riga), zu der uns die Ärztin rät. Taja fährt Ende Oktober dorthin, in Soswa liegt schon Schnee. Wie sich später herausstellt, trägt sie aber schon bei ihrer Abreise unseren kleinen Shenja unter dem Herzen.
    Wir heiraten am 15. Mai 1954, sieben Wochen vor Shenjas Geburt. Es ist insgesamt eine kümmerliche Hochzeit – sie füllt nicht einmal die Mittagspause aus. Vielleicht ist dies typisch für die Eheschließungen der Verbannten, die ihre stillen Hoffnungen nicht durch zu viel Aufheben gefährden wollen. Lediglich eine Zeugin, Henrietta Michailowna, begleitet uns. Von ihr muss ich mir, da ich mein Geld vergessen habe, sogar die 15 Rubel «Registrierungsgebühr» borgen. Nachdem der Vermerk in die standesamtlichen Dokumente eingetragen ist, gehen wir zurück ins Projektierungsbüro, als sei nichts passiert.
    Unsere Ehe wird fast 40 Jahre dauern – bis zu Tajas Tod am 18. Februar 1993.

BRUDER WALTER IN SOSWA
    Als Shenja zwei Monate alt ist, kommt Walter nach Soswa. Die Begrüßung ist stürmisch, denn wir haben nicht daran geglaubt, uns je wiederzusehen.
    Walter war im Gegensatz zu mir «offiziell», also nach Paragraph 58, Absatz 10 wegen «konterrevolutionärer Propaganda» verurteilt worden.  17 Es sei gleich angemerkt, dass Walter nach Stalins Tod offiziell rehabilitiert wurde, weil, wie es in dem entsprechenden Dokument lapidar heißt, «der Tatbestand eines Verbrechens nicht gegeben war».
    Aus dem Moskauer Butyrka-Gefängnis wurde Walter zunächst ins Jekaterinen-Gefängnis nach Omsk überstellt, von dort aus in ein sich ebenfalls in Omsk befindliches Lager. Dort verbrachte er die schlimmste Zeit, einschließlich des Hungerwinters 1943/44.
    Etwa 1947 wurde er nach Jermakowo gebracht. Dies ist eine Siedlung, die fast am nördlichen Polarkreis liegt. Hier, in den Lagern 503 und 505, realisierte Stalin mit 500   000 Häftlingen eine seiner Lieblingsmarotten, nämlich eine auf gefrorenem Boden verlegte Eisenbahnverbindung von der Ob-Mündung zur Jenissei-Mündung (deren Bau unmittelbar nach Stalins Tod eingestellt wurde). Den Häftlingen in diesen Lagern erging es trotz der rauen klimatischen Bedingungen etwas besser als den Geschundenen in anderen Lagern, was beispielsweise die Verpflegung oder die Versorgung mit Wintersachen betrifft. Sogar Laienspielgruppen soll es gegeben haben. Zudem schaffte Walter – als ehemaliger Röntgenassistent – den Sprung in die Kategorie pridurki : Er wurde Arzthelfer. Unter den im Lager herrschenden primitiven Bedingungen wurde ihm einiges abverlangt. Er musste nicht nur assistieren, sondern einfache Operationen selbst durchführen, Behandlungen verordnen, kurz, alles tun, was anfällt, wenn nur ein einziger Mediziner am Ort ist. Walter, der zeitweise sogar mit der Leitung des Medpunkts beauftragt war, hatte dort viele Erfolgserlebnisse, über die er gern und, wie ich glaube, ohne zu übertreiben erzählt.
    1950 wurde er – ein Jahr vorzeitig – aus dem Lager

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