Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
eine Weisung aus Moskau. Diese kommt erst nach Arbeitsschluss und lautet, dass unbedingt noch heute eine Trauerveranstaltung einzuberufen sei. Nun werden Boten durch die Siedlung geschickt, damit die Leute sich um 21 Uhr im Klub zusammenfinden.
Ich habe mich jedoch schon am Vortag von Bidshejew krankschreiben lassen und gehe nicht zu der Gedenkversammlung. Das wäre die Höhe, wenn ich den Tod dieses Menschenschinders auch noch betrauern müsste.
Aus Moskau hört man bald, dass Malenkow Vorsitzender des Ministerrates wird. Veränderungen liegen in der Luft. Hier in Soswa trauen sich die Leute plötzlich, abfällig über den «Vater aller Völker» zu sprechen. Tamara Sarana, eine intelligente Schülerin der zehnten Klasse, der ich privat Deutschstunden gebe, erzählt mir, dass sie über den Tod Stalins wie ein Schlosshund geheult habe, aber ihre Mutter, eine Ärztin, die zehn Jahre abgesessen hat, habe sie angefaucht: «Hör endlich auf, er war der größte Schurke aller Zeiten!»
Am frappierendsten ist ein Kommuniqué, das am 4. April in der Prawda erscheint. Dort heißt es, dass die 16 – ich ergänze: zumeist jüdischen – Kremlärzte, die vor kurzem als «ärztliche Giftmischer» verhaftet worden waren, unschuldig seien. Die Anklage gegen sie habe sich – so wörtlich – als ein «Machwerk der Mitarbeiter des ehemaligen Staatssicherheitsministeriums» erwiesen, sodass die zu Unrecht Beschuldigten wieder freigelassen worden seien. (Ich zähle die aufgeführten Namen und stelle fest, dass nur 14 der Verhafteten die Inhaftierung überlebt haben.)
Auch in der Kommandantur weht plötzlich ein anderer Wind. Als ich mich Anfang April oder Mai bei Anastassenko melde, steht er auf, kommt mir entgegen, schüttelt mir sogar die Hand und fragt mich freundlich, ob ich irgendwelche Probleme hätte. Welch verblüffende Wende! Mit der Zeit merken wir, dass wir auch nicht mehr zu Sondereinsätzen befohlen werden.
Etwa sechs Wochen nach Stalins Tod bringt die Prawda , die wir jetzt begierig lesen, einen Leitartikel, in dem am Rande ein Marx-Zitat angeführt wird, das den «Personenkult» als Ausdruck des bürgerlichen Denkens verdammt. Kurz danach zieht ein anderer Leitartikler gegen die sogenannte Abendarbeit in den Büros zu Felde, also gegen das unnütze Herumsitzen der Angestellten in den Behörden nach Feierabend, das sich eingebürgert hat, weil Stalin nachts zu arbeiten pflegte (sodass man, wenn der Diktator eine Auskunft brauchte, jederzeit mit einem nächtlichen Telefonanruf rechnen musste). Nun schreibt die Prawda , dass die «Abendarbeit» sich nachteilig auf das Familienleben und die Gesundheit der Funktionäre auswirke, und dass ihr schon mancher hohe Staatsdiener zum Opfer gefallen sei. All diese Nadelstiche gegen Stalin und seine Beweihräucherung bewegen mich sehr und geben meinen sehnsüchtigen Erwartungen auf eine grundsätzliche Wende der Partei- und Staatspolitik stets neuen Auftrieb.
Wenige Wochen später wird der Chef der Staatssicherheit Berija (angeblich wegen der Vergewaltigung einer Frau) erschossen. Als Taja und ich am Morgen nach der nüchternen, fast unauffälligen Prawda -Meldung ins Büro kommen, haben die Sträflinge bereits das obligatorische Berija-Porträt abgenommen, sein Konterfei ausgeschnitten, ihm eine Schlinge um den Hals gelegt und ihn erneut aufgehängt. Euphorisch jubeln sie: «Jetzt ist Woroschilow Präsident, da kriegen wir den wahren Sozialismus!»
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass in den höchsten Sphären heftige Kämpfe um den Kurs nach Stalin ausgetragen werden. Ich bin zwischen Hoffnung und Enttäuschung hin und her gerissen. Einerseits schmerzt mich, dass die (wie ich später erfahre: noch von Berija angeschobene) Sommeramnestie des Jahres 1953 sich nur auf Kriminelle sowie auf Häftlinge, die wegen der Übergriffe bei der Durchsetzung des Besatzungsregimes verurteilt sind, bezieht. Andererseits versuche ich, die Tatsache, dass den nach Artikel 58 Abgeurteilten kein Straferlass gewährt wird, damit zu erklären, dass die Auseinandersetzungen im Kreml um politische Kernfragen noch anhält. Mal glaube ich, in einem Kommuniqué oder einem Artikel ein Zeichen für den Erfolg der Stalin-Kritiker zu sehen. Ein anderes Mal überzeuge ich mich davon, dass in den entscheidenden Fragen keine Bewegung zu beobachten ist. In solchen Momenten packt mich regelmäßig die chandra , die Schwermut, für zwei oder drei Tage verfalle ich in einen lähmenden Zustand, in dem mir
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