Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Pljustschicha. Es war Teil einer Vierzimmerwohnung mit Bad und – für Moskau nicht selbstverständlich – Gasherd in der Küche. Zwei Zimmer wurden von je einem älteren Ehepaar bewohnt, ein drittes Zimmer gehörte ebenfalls Schpigel (er verbrachte nur die Wochenenden bei seiner Frau und seinen Kindern auf der Datsche). Unser Zimmer, das vierte, hatte die Form eines L, war etwa 25 Quadratmeter groß, hell und mit Balkon. In dieses luxuriöse Heim zogen Lydia und ich kurz vor dem 1. Juni 1936 ein. Wahrscheinlich waren wir das glücklichste Paar in ganz Moskau. Wir lebten über den Wolken – allerdings waren diese Wolken schwarz und unheimlich. Um uns herum spielten sich schreckliche Dinge ab.
Schon seit Anfang des Jahres befand sich die KUNMS in Auflösung, die für uns so etwas wie eine Heimat gewesen war. Die Lehrveranstaltungen der letzten Zeit hatten ohnehin nur noch in halbleeren Hörsälen stattgefunden. Ein Drittel, vielleicht sogar schon die Hälfte der Dozenten und Studenten waren bereits verhaftet (die wenigen Studenten, zu denen ich weiter Kontakt hatte, sind alle bis 1939 dem NKWD zum Opfer gefallen). Die Angestellten der KUNMS mussten sich Hals über Kopf neue Arbeitsplätze suchen.
Lydia, die ihren Beruf liebte, fand so schnell keine neue Stelle als Kindergärtnerin und ging als Bürohilfskraft ins Moskauer Stalin-Automobil-Werk. Ich hatte noch Glück, weil unsere Zeichner-Abteilung vom Moskauer Tschernyschewski-Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte* (MIFLI) übernommen wurde. Allerdings ließ uns mancher Mitarbeiter spüren, dass wir aus der von «Volksfeinden» zersetzten KUNMS kamen. Eine Genossin, die ich noch aus Berlin kannte, grüßte mich kaum.
Im Juli wurden zwei junge Leute aus unserem Freundeskreis verhaftet. Der schon durch die Liquidierung der KUNMS auseinandergerissene Kreis hörte faktisch auf zu existieren.
In der zweiten Augusthälfte ging der Prozess gegen Sinowjew, Kamenjew und andere Genossen über die Bühne – der erste große Moskauer Schauprozess, in dem sich die Angeklagten musterschülerhaft zu allem bekannten, was ihnen zur Last gelegt wurde: zu Attentatsplänen, die nie gedacht, zu Verbrechen, die nie begangen wurden. Das Urteil stand von Anfang an fest. Noch ehe die Vernehmung abgeschlossen war, veröffentlichte die Prawda * Briefe von Schulklassen, in denen gefordert wurde, die «tollwütigen Hunde zu erschießen». Unter diesen «tollwütigen Hunden» befand sich auch – Alexander Emel, der sich vor zwei Jahren erboten hatte, mir den Weg in die Universität zu ebnen! Nun saß er – unter seinem richtigen Namen Moise Lurje – auf der Anklagebank und gab zu, Moskauer Studenten zu Terroranschlägen auf Stalin angestiftet zu haben. Was wäre passiert, wenn ich damals zwei Kopeken zum Telefonieren gefunden hätte?
Wenn uns die Liebe nicht blind machte, so umgab sie uns doch mit einer Art Schutzwall. So schrecklich die Nachrichten waren, bis ins Innerste ließen wir sie nicht eindringen. Nachdem wir uns die erschütterndsten Stellen aus der Zeitung vorgelesen hatten, legten wir das Blatt weg, fielen uns um den Hals und ließen es dabei bewenden. Ungefähr um die Zeit, als wir vom Todesurteil gegen Sinowjew und seine 15 Mitangeklagten erfuhren, hatten wir ganz praktische Sorgen: Wir mussten in einer Woche ausziehen.
Dass ich mich mit aller Kraft um eine neue Unterkunft bemühte, bedarf keiner Erwähnung. Auch Lydia tat, was in ihrer Macht stand. Dennoch weigerte sie sich strikt, in einen Vorort zu ziehen und irgendwo 30 oder 50 Kilometer von Moskau entfernt zu versacken. Dann, sagte sie, ziehe sie es vor, für ein paar Monate zu ihren Eltern nach Ostsibirien zu fahren, um sich von dort aus um eine mit Wohnraum verbundene Arbeit in Moskau zu bewerben.
In den letzten drei Tagen bei Schpigels waren wir völlig niedergeschlagen. Mit hängenden Köpfen verließen wir am Abend des 31. August unser Zimmer – Lydia, um in den Transsibirischen Express zu steigen, ich, um ihr ein letztes Lebewohl zuzuwinken. Wir ahnten wohl beide, dass wir einander für immer verlieren würden.
Nachdem die Schlusslichter des Zuges entschwunden waren, stand ich noch lange auf dem Fernbahnsteig des Nordbahnhofs. Schließlich raffte ich mich auf, fuhr zu Schpigels zurück, schnappte meinen Koffer und begab mich zum Spassonaliwkowski Tupik, wo sich das Zimmer befand, das ich vorher zusammen mit Walter bewohnt hatte und das noch immer von Hans und meiner Mutter bezahlt wurde.
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