Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Ich hielt es für selbstverständlich, dass mein unterbrochenes Leben mit ihm nun weitergehen würde.
Mein Bruder sah die Dinge jedoch anders. Als er mich mit meinem Köfferchen dastehen sah, machte er die Tür gleich wieder bis auf einen schmalen Spalt zu und fragte mich, was ich wolle. Er eröffnete mir, dass ich nicht mehr hier wohnen könne, weil seine Freundin Böszi inzwischen zu ihm gezogen sei. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Am Kinderspielplatz im Hof setzte ich mich auf eine Bank und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Aber was gab es da zu ordnen? Die Freundin verloren, kein Dach über dem Kopf, kaum Geld in der Tasche. Hans und Mutter wohnten in einer gesperrten Zone bei Podlipki. Mein Vater? Würden er und seine Lebensgefährtin mich überhaupt aufnehmen? Wollte ich mich den Erniedrigungen von Gerda aussetzen? An wen sonst konnte ich denken? Viele meiner Bekannten waren verhaftet, alle hatten Angst vor dem Zugriff des NKWD. Meine Bitte, bei ihnen übernachten zu können, wäre ihnen außergewöhnlich und undurchsichtig erschienen, davon abgesehen, dass die meisten gar keinen Platz hatten.
Wie lange ich auf der Bank des Kinderspielplatzes saß, weiß ich nicht. Als ich aus der Erstarrung erwachte, war das Licht hinter vielen Fenstern erloschen. Es hatte zu nieseln begonnen. Ich beschloss, zum Bahnhof zurückzukehren, um meinen Koffer in der Gepäckaufbewahrung abzugeben. In der Straßenbahn kam mir der Gedanke, dass ich erst mal in einen Vorortzug steigen und die Nacht auf der Hin- und Rückfahrt verbringen konnte. Am geeignetsten war die Strecke in Richtung Leningrad, wo die Loks noch mit Dampf betrieben wurden, langsamer fuhren und auch länger an den Stationen hielten. Ich löste mir eine Fahrkarte nach dem etwa 100 Kilometer entfernten Klin und wartete im überfüllten Wartesaal auf den letzten Zug in diese Richtung.
Da sich auch in den folgenden Tagen keinerlei Lichtblicke auftaten, verbrachte ich 14 Nächte oder mehr auf dem Leningrader Bahnhof und in den dreckigen, schlecht beleuchteten Zügen nach Klin. Im Wartesaal, wo Milizionäre darauf achteten, dass niemand schlief, schnappte ich mir zuweilen, wenn ich einen der begehrten Sitzplätze ergatterte, einen herumliegenden Zeitungsfetzen und versuchte, mir mit Lesen die Augen offen zu halten. In den Spalten der Iswestija und der Prawda wurde gerade die «Volksaussprache über die erste sozialistische Verfassung in der Menschheitsgeschichte» geführt, die nach einigen Monaten vom Obersten Sowjet unter großem Jubel angenommen wurde. Gejubelt wurde auch jetzt schon: Alle Zuschriften in den Zeitungen überschlugen sich vor Begeisterung über die Freiheiten des Volkes, die Rechte der Bürger, das vom Vater aller Werktätigen herbeigezauberte Glück jedes Einzelnen …
Wenn der letzte Zug nach Klin ausgerufen wurde, schlich ich mich zum Bahnsteig und kroch in einen der schwarzen Waggons. Um diese Zeit war der Andrang der Passagiere nicht groß, sodass ich in der Regel einen freien Platz finden konnte. Oft befand ich mich auf der letzten Strecke allein im Wagen. Dann versuchte ich einzuschlafen, doch das gelang mir nicht immer. Der Waggon ruckelte und zuckelte, Geräusche drangen an mein Ohr. Dann wieder stand der Zug endlos lange still, irgendwo in der Ferne erklangen Stimmen, manchmal hörte ich Schreie, die ich mir vielleicht auch nur einbildete. Im Hindösen zwischen Schlaf und Wachsein öffnete ich die Augen, erschrak vor den an den Fenstern vorbeihuschenden Lichtern, lauschte dem an die Scheiben prasselnden Regen und glaubte, auf dem Weg in die Hölle zu sein. Ich redete mir ein, für meine politischen und menschlichen Sünden bestraft zu werden oder einer Prüfung ausgesetzt zu sein.
Obwohl der Kliner Zug vor seiner Rückkehr nach Moskau einen einstündigen Aufenthalt hatte, durfte man nicht im Waggon bleiben. Trostlose Stunde, die ich überbrücken musste. Auch der Bahnhof war geschlossen. Im Freien konnte ich mich, selbst wenn es warm war, nicht hinsetzen, weil ich fürchtete, einzuschlafen und die Rückfahrt nach Moskau zu verpassen. So lief ich Nacht für Nacht, durch die dunklen Straßen. Mehrmals kam mir der Gedanke, nicht wieder in den Zug zu steigen, sondern seine Abfahrt abzuwarten und mich dann vor die Lokomotive zu werfen.
Die Rückfahrten aus Klin waren meist noch schlimmer. Der Schlafmangel hatte mich aufgeputscht, die Empfindlichkeit meiner Nerven bis aufs äußerste gesteigert. Die ausgeschlafenen Leute, die zum Teil
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