Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Ende. Eines Abends erhielt ich auf dem Postamt Nr. 9 einen Brief: Von Lydia – dachte ich. Aber er war von Zilli. In wenigen Worten teilte sie mir mit, dass sie ein Zimmer für mich gefunden habe. Ich fuhr nicht, sondern flog zum Nordbahnhof und stand nach einer guten Stunde vor Zillis Haus.
Die Nachbarin, bei der mich Zilli unterbrachte, war eine alte, brummige Frau, nicht ganz so unsympathisch wie ihre beiden Kinder, mit denen sie zusammenwohnte: eine etwa fünfundvierzigjährige aufgedonnerte Witwe und ein etwas jüngerer, unverheirateter Sohn. Die Witwe war schlecht auf mich zu sprechen, weil ich das Zimmer bekam, in dem sie bis zum Tod ihres Mannes mit ihm gelebt hatte. Im Grunde war es nur ein Verschlag, der mit Brettern, die nicht einmal bis zur Decke reichten, vom Wohnraum der anderen drei Bewohner abgeteilt war. Aber immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf. Noch am selben Abend zog ich ein.
WIE IM MITTELALTER
Ein altes Sprichwort sagt, dass im Hause des Gehenkten nicht vom Strick gesprochen wird. In Moskau sprachen jedoch sogar die Zeitungen davon.
Laufend wurde über «Entlarvungen», über «feige Selbstmorde von Verrätern» und über Prozesse gegen «feindliches Gesindel» berichtet. Im Januar 1937 las ich vom Prozess gegen das sogenannte Trotzkistisch-antisowjetische Zentrum unter Pjatakow (stellvertretender Volkskommissar für Schwerindustrie und direkter Vorgesetzter meines guten Bekannten Lasar Goryschnikow), Radek, Solokolnikow, Serebrjakow und Muralow, in dem 13 Todesurteile und vier hohe Freiheitsstrafen verhängt wurden. Veröffentlichungen gab es auch über «Säuberungen» in den Unionsrepubliken, wenn auch die Mitteilungen nicht das ganze – heute bekannte – Ausmaß erkennen ließen. Beispielsweise wurden in Armenien ausnahmslos alle hohen Partei- und Staatsfunktionäre «hinweggesäubert», in der Belorussischen Republik und in Aserbaidschan über die Hälfte.
Mehr als aus der Presse erfuhr man jedoch durch Gemunkel, durch das Verschwinden bestimmter Porträts oder Bücher usw. Von 14 Politbüromitgliedern und -kandidaten waren 1938 fünf verschwunden. Mich erschütterten die wahnwitzig anmutenden Nachrichten vom angeblichen Verrat alter Bolschewiken, etwa des Tscheka-Chefs Jagoda, des Obersten Staatsanwalts Krylenko, des WZIK-Sekretärs Jenukidse oder auch jüngerer Leute wie des Komsomol-Vorsitzenden* Kossarew. Am meisten bewegt mich aber, dass Menschen als «Volksfeinde» ins Jenseits befördert wurden, die ich in meiner Kindheit verehrt hatte, so zum Beispiel Bela Kun, den Führer der ungarischen Räterepublik von 1919, oder Fritz Platten, den Organisator von Lenins Reise durch Deutschland im plombierten Waggon. Auch der Komintern-Theoretiker Professor Knorin, dessen Vorlesungen ich oft auf der Galerie der KUNMS mitgehört hatte, der Volksbildungsminister Bubnow und Marschall Blücher fielen dem Terror zum Opfer. Bubnow war seit 1903 in der Partei und hatte 1917 an der Planung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes teilgenommen. Marschall Blücher war der Schöpfer der Fernöstlichen Roten Armee und war für mich und meine Generation schon zu Lebzeiten eine Legende. Dass er 1937 dem Militärgericht angehörte, das den ebenfalls berühmten Marschall Tuchatschewski und andere Genossen zum Tode verurteilte, hatte zunächst sogar meine Zweifel an der Unschuld dieser Armeeführer gemindert. Doch wenige Monate später wurde er selbst verhaftet und – wie die Prawda 1964, anlässlich Blüchers 75. Geburtstag, schrieb – «ohne Gerichtsverfahren und Urteil» erschossen.
Schwer mitgenommen wurde ich auch durch die Nachrichten über die «Entlarvung» von Schriftstellern, Regisseuren und anderen Künstlern. Unter anderem erfuhr ich von der Verhaftung Awerbachs (Schwager des ehemaligen Geheimdienstchefs Jagoda), Jassenskis (Verfasser des Bestsellers Tschelowek menjaet koshu ), Luppols, Pilnjaks, Tretjakows und Babels, dessen «Reiterarmee» zu den berühmtesten Werken der Sowjetliteratur gehörte. Von der Verhaftung Meyerholds wurde erzählt, dass Stalin ihn in den Kreml zitiert und versucht habe, ihn auf die pompöse, sozialistische Pseudoklassik festzulegen. Meyerhold soll entgegnet haben: «Sie, Genosse Stalin, sind das Genie der Politik, in die ich mich nicht einmische. Ich aber bin das Genie des Theaters, in das Sie sich nicht einmischen sollten.» Angeblich ist er nicht mehr als freier Mensch aus dem Vorzimmer des Diktators herausgekommen. Spurlos verschwand auch
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