Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
hatten, war deren Hauptproblem nicht der Hunger. Ich versuche, mir Gedichte, die ich einst in der Schule gelernt hatte, ins Gedächtnis zu rufen: «Festgemauert in der Erden …» Verflucht, womöglich hat mein Erinnerungsvermögen schon unter dem Hungerdasein dieser fünf Monate gelitten. Vielleicht irreparabel? Ich versuche es mit englischen Vokabeln. Das geht schon besser. Dann wiederhole ich Daten aus der griechischen Geschichte: Was sich in diesem oder jenem Jahr in Kleinasien, in Athen, Sparta und Korinth zugetragen hat. Tatsächlich tauchen jetzt Namen auf, Schlachten, Ereignisse. Ganz verblödet bin ich noch nicht.
Das nervtötende Frage-Antwort-Spiel im Nebenraum geht weiter. Offenbar ist sich Knopf seiner Selbstgespräche nicht bewusst. Als er meine Zelle aufschließt, wirkt er unbefangen. Allerdings richtet er auch kein Wort an mich. Schweigend stellt er die Schüssel Suppe auf den Fußboden. Seine eigene balanda holt er sich erst zwei Stunden später. Nun spricht er noch lauter, seine Stimme zittert vor Aufregung: «Aha, Alexej Jakowlewitsch, jetzt ist wohl die Zeit für das Nachtmahl gekommen. Oh, wie köstlich das aussieht! Na dann, guten Appetit!» Mit diesen Worten beginnt er zu schmatzen. «Phantastisch … Da sage mal einer …»
Unfreiwillig erlebe ich mit, wie mein Nachbar den Inhalt seines, wie ich mir ausmale, Riesentopfes verschlingt – die Suppe, das Brot, die Unmengen von Brennnesseln. Ich höre ihn rülpsen und furzen und schließlich schnarchen. Als der Soldat, der die Abendzählung durchführt, seine Tür öffnet, verhaspelt er sich zuerst und grölt dann mit trunkener Stimme: «Zwei Mann hier – ein Mann Karzerwache, ein Arrestant.»
Genauso vergehen die folgenden beiden Tage. Und während Knopf ständig vom Essen faselt, beginnt mich der Huger zu quälen. Es ist das erste Mal, dass ich 300 Gramm Brot erhalte – zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Um Kräfte zu sparen, bemühe ich mich, keine unnötigen Bewegungen zu vollführen, frage mich, ob da schon die Umnachtung anfängt.
In der letzten Nacht im Bunker erwischt es mich – ich rede wirr und wälze mich im Fieber hin und her. Am dritten Tag bringt mir Knopf morgens noch mein Brot und die Suppe, dann entlässt er mich. Ich wanke zum Appellplatz und wende mich an Dr. Wagner, der dort steht und die Leute beobachtet. «Ja», sagt er, «ich habe von deinem Pech gehört. Ich schreibe dich krank, aber erst einmal musst du drei oder vier Tage die Norm erfüllen, damit du eine ordentliche Brotration bekommst.» Leicht gesagt – mit 300 Gramm im Bauch die Norm erfüllen!
Aber vorerst kommt es nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Robert erweist sich als echter Kumpel. Er hat sich keinen zweiten Mann gesucht, sondern ausprobiert, wie weit man auch im Alleingang – mit der Bogensäge – die Norm (dann natürlich nur für eine Person) erfüllen kann. Und da in unserem Jagen zahlreiche dünne Bäume wachsen, hat er es geschafft. Nun machen wir uns an die starken Bäume und bringen drei Tage lang die Norm zustande. Am Morgen des vierten Tages melde ich mich im Medpunkt. Wagner schreibt mich krank, angeblich wegen Malaria.
Fünf Tage schlafe ich fast ununterbrochen, nur morgens hole ich mir vom Medpunkt irgendeine Medizin. Und natürlich gehe ich zweimal täglich in die Kantine. Am sechsten Morgen um drei Uhr früh werden wir geweckt: Waggons zum Beladen sind gekommen. Draußen heult der Sturm. Trotno rüttelt mich: Ob ich noch krankgeschrieben sei. Ich bejahe. Gott sei Dank, dass ich bei diesem Sauwetter nicht rausmuss.
Drei Stunden später ist der Teufel los. Bestushew rast zwischen den Pritschen umher: «Wo sind die Saboteure? Ich werde ihnen beibringen, wie man im Lager zu parieren hat!»
Zuerst begreife ich gar nichts. Dann stellt sich heraus, dass von unserem Zug zehn Mann – fast die Hälfte – nicht zum Verladen angetreten sind. Drei liegen bei Wagner auf der Krankenstation, einer kuriert seinen gebrochenen Fuß, einer behauptet, kein Schuhwerk zu haben, drei hatten gehofft, am Morgen krankgeschrieben zu werden, und zweien geht es wie mir: Sie waren gestern krankgemeldet und hofften auch heute noch, als arbeitsunfähig zu gelten. Wegen dieser zehn Leute sind nur sechs von sieben Waggons beladen worden, was der Lagerverwaltung eine fünfstellige Strafe einbringen wird.
Deshalb tobt Bestushew. Um sechs Uhr ist er im Medpunkt gewesen und hat die Liste der Krankmeldungen beschlagnahmt. Da werden aber nur die
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