Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
behalten, und sogar daran, das vor ihr geheim zu halten.
Ihr kleiner Bruder war gerissener, als ihr je aufgefallen war, und in gewisser Weise bewunderte sie das.
Sie trat auf das Buch zu. Es war ihr noch immer unheimlich. Sie spürte seine Anziehungskraft, spürte aber auch die abstoßenden Wellen, die von ihm ausgingen, so, als sei es ein Magnet, der sich nicht recht entscheiden konnte, welche Polarität er haben wollte.
Sie schloss die Zimmertür und kehrte zurück. Strich mit einem Finger über den Buchrücken und spürte ein Kribbeln. Es erinnerte sie an das erste Mal, als sie den herzförmigen Pralinenkasten berührt hatte.
Was, wenn dieses Buch eine ähnliche Falle war?
Wenn ja, dann wusste sie, wie sie vorgehen musste. Ein paar Schnitte, und es wäre nur noch ein Haufen Konfetti.
Fiona zog das Buch aus dem Regal und setzte sich damit im Schneidersitz auf Eliots Bett. Sie öffnete den Band und blätterte die perfekt erhaltenen Pergamentblätter um. Es musste aus dem 15. Jahrhundert stammen oder noch älter sein. Womöglich viel älter. So alte Bücher waren sehr selten, und trotz ihrer Befürchtungen ging sie ehrerbietig damit um.
Es gab Seiten mit griechischer Schrift, Latein und Arabisch und mehrere mit primitiven Piktogrammen, die sie nicht wiedererkannte. Das Buch war seltsam. Es glich mehr einer Sammlung oder einem Tagebuch als einer Erzählung.
Fiona bemerkte, dass eine Seite mit einem winzigen Papierstreifen markiert war. Sie blätterte dorthin. Dort befand sich ein Holzschnitt mit einem Monster, das verängstigte mittelalterliche Bauern mit einer Forke stach. Die Bildunterschrift identifizierte dieses Geschöpf als den Teufel.
Eliot musste ein paar Nachforschungen über die Familie ihres Vaters angestellt haben. Das machte ihr Angst, aber sie war froh, dass er etwas über diese Verwandten herausfand, falls die auch noch auftauchten.
Sie rümpfte die Nase beim Anblick des Bildes.
Das konnte nicht echt sein. Eher eine Verzerrung ihres wirklichen Aussehens, ganz gleich, wie es darum bestellt war … wenn sie denn überhaupt existierten.
Da war noch ein Papierstreifen. Sie blätterte zu der Stelle. Es war eine Geschichte über Wikinger in der Neuen Welt. Zeichnungen zeigten heldenhafte Schlachten, Indianer und Meerjungfrauen – irgendwie typisch für ihren Bruder, solch eine Tagtraumphantasie zu suchen, in die er sich flüchten konnte.
Sie blätterte weiter, an Sternenkarten und langen Passagen in Keilschrift vorbei, und hielt dann inne, als sie einen illustrierten Teil fand. Umgeben von einem filigranen roten und goldenen Rahmen stand eine nackte Frau inmitten von Waldbewohnern: Bären und Wölfen, Füchsen, Eichhörnchen und Kaninchen, Finken und Falken. Die Frau streckte den Tieren die Hände hin, so als ob sie sie an sich riechen lassen wollte – oder fast, als würde sie sie segnen.
Fiona hatte diese Geste erst vor kurzem gesehen, und sie versuchte sich zu erinnern wo, aber es gelang ihr nicht.
Sie übersetzte den lateinischen Text auf der Rückseite:
Mutter Natur salbt die Tiere der Wälder, schenkt ihnen geschärfte Krallen, Nasen und Ohren und gute Augen und den Kuss des Winterschlafs.
Fiona knipste Eliots Nachttischlampe an, und das illuminierte Manuskript funkelte vor Gold und leuchtenden Farben. Mutter Naturs Gesicht war lebensecht. Es war Tante Dallas.
Fiona schloss hastig das Buch. Es war eines, ein geschmackvolles Aktgemälde zu betrachten. Aber es war etwas ganz anderes, die eigene Tante nackt zu sehen. Mit perfekten Formen, die einem die eigenen vorkommen ließen wie, na ja, das, was sie waren: die unzureichende Figur eines gerade erst der Pubertät entwachsenden fünfzehnjährigen Mädchens.
Fiona verschränkte die Arme vor der Brust, hielt das Buch dort fest und spürte, dass ihre Wangen brannten.
Es war nur ein Bild. Der Künstler hatte es so zeichnen und verschönern können, wie auch immer er wollte.
Sie öffnete das Buch wieder und konzentrierte sich diesmal auf die Worte.
Da war eine Geschichte über Mutter Natur und ihre Abenteuer im Wald der Schatten. Sie half den Tieren, die Jäger zu überlisten. Auch hatte sie mehrere Begegnungen: mit einem Waldarbeiter, einem Fischer und einem Schmied, die sich alle in sie zu verlieben schienen. Sie schienen auch … Fiona las diese Stellen sehr sorgfältig noch einmal, weil sie sich nicht ganz sicher war, ob sie diesen speziellen lateinischen Begriffen je zuvor begegnet war. Doch der Kontext war klar. Tante Dallas
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