Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
hatte, zumindest in der Geschichte, Sex. Und zwar reichlich.
Fiona blätterte zur nächsten Seite, um zu sehen, wie es weiterging. Dort befand sich eine weitere Miniatur: Dallas und Tante Lucia tanzten um einen Maibaum.
Am Rande der Seite befand sich eine handschriftliche Notiz auf Griechisch:
Jahreszeiten gehen, kommen.
Klotho, Lachesis, Atropos.
Zwei der drei sind hochwillkommen,
Schwester Tod vergisst man bloß. 55
Bei der Erwähnung von Schwester Tod bildete sich auf Fionas Armen eine Gänsehaut.
Lachesis . Das war nahe an Lucia .
Klotho ? Das ähnelte Dallas nicht einmal ansatzweise, aber hatte Großmutter sie nicht zuerst als »Tante Claudia« vorgestellt, bevor Dallas sie verbessert hatte?
Was für ein Name war Dallas überhaupt?
Fiona ging auf, wie seltsam das alles war: Hier gab es ein Bild von zwei Frauen – ihren Tanten, wie sie behaupteten -, das vor fünfhundert Jahren auf diese Seite gelangt war. Konnte es eine Fälschung sein? Doch der Band wirkte wie ein echtes mittelalterliches Buch. Es roch auch so, mit diesem typischen Geruch nach Jahrhunderten von Schimmel und Staub.
Aber was, wenn sie gar nicht ihre Tanten waren? Was, wenn …
Fiona markierte die Stelle im Buch mit der Hand, ging ins Badezimmer, zog die Tür zu und schloss sie hinter sich ab.
Dann öffnete sie das Buch wieder an der Stelle mit der ersten Illumination von Mutter Natur. Sie lehnte es an, so gut sie konnte, und beugte sich näher an den Spiegel, so dass ihr Gesicht sich neben dem Buch befand.
Die Illustration sah wirklich aus wie Tante Dallas. Genau wie sie.
Sie sah auch wie Fiona aus.
Beide hatten sie dieselbe hohe Stirn, dieselben Augen (auch wenn die von Dallas ein bisschen grüner waren). Ihr Haar war auch genauso wellig wie Fionas; allerdings sah ihres auf dem Bild eine Million Mal besser aus und war blond.
Fiona blätterte weiter und verglich ihr Gesicht mit Tante Lucias.
Auch sie ähnelten sich: dieselben Lippen, dasselbe Kinn, aber …
Sie blätterte zurück.
Sie sah mehr wie Tante Dallas aus, oder Claudia … Klotho … oder wie auch immer ihr richtiger Name lautete.
Die Leute in dieser Familie schienen so oft zu lügen. War es möglich, dass sie auch gelogen hatten, als sie behauptet hatten, ihre Tanten zu sein? Nicht, dass Fiona auch nur im Geringsten bezweifelte, dass sie miteinander verwandt waren. Aber was, wenn Dallas nicht ihre Tante, sondern etwas anderes war?
Fiona berührte Dallas’ Bild im Spiegel.
Ihre Mutter?
Dallas hatte sicher Gelegenheit gehabt, Kinder zu bekommen, wenn sie sich so verhielt wie in der Geschichte. Aber warum hatte man ihr und Eliot erzählt, dass ihre Mutter tot war, wenn sie es nicht wirklich war? Wollte sie sie nicht haben? Oder hatte sie es getan, um ihre Identität geheim zu halten? Hatte sie sie »Großmutter« übergeben, um sie zu ihrem eigenen Schutz fern der Familie aufzuziehen?
Und war Dallas nicht zurückgekehrt, als sie sie am meisten gebraucht hatten? Um ihnen beizubringen, wie sie die Fäden benutzen konnten, um in die Zukunft zu sehen. War das nicht die Handlungsweise einer schützenden Mutter?
Es war so dumm von Fiona gewesen, aus dem Zimmer zu rennen, als sie erfahren hatte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Sie hätte mit Dallas reden sollen. Sie hätte so viel erfahren können.
Oder war das alles Wunschdenken?
Vielleicht war Dallas nur ihre Tante, und ihre Mutter war wirklich tot.
Sie setzte das Buch auf ihrem Schoß ab und berührte die Illumination. Sehnsucht durchzuckte ihr Herz.
Fiona schloss sanft das Buch. Es tat zu weh, darüber nachzudenken. Sie hatte angeblich weniger als einen Tag zu leben – den Fäden nach – und musste noch eine Heldenprüfung bestehen. Zuallererst musste sie darüber nachdenken.
Sie brachte das Buch zurück in Eliots Zimmer und schob es zurück ins Regal.
Als sie in den Flur hinausging, hörte sie in der Küche Töpfe klappern. Vielleicht hätte sie mit Cee reden sollen. Cee hörte ihr immer zu. Aber wie konnte sie verstehen, was sie durchmachten? Sie wünschte, Eliot wäre zu Hause gewesen.
Sie seufzte, kehrte in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür ab.
All ihre Probleme drehten sich um Fäden: die Fäden, die sich von den Pralinen ausgehend parasitisch an sie geheftet hatten; die Tatsache, dass ihr Faden endete, was darauf hindeutete, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte; und das, was sie gestern Nacht im Spiegellabyrinth getan hatte: einen Teil von sich abzuschneiden. Das war noch ein Faden
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