Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
Familie.«
Großmutter dachte einen Moment lang darüber nach. Dann ging sie zu der doppelten Schiebetür auf der gegenüberliegenden Seite des Esszimmers und schob sie auf. »Kommt.«
Großmutters Arbeitszimmer war tabu. Eliot und Fiona waren
zwar schon darin gewesen, aber nur, um Bescheid zu sagen, dass das Abendessen fertig war oder dass ein Mieter an der Wohnungstür stand. Sie waren noch nie hineingebeten worden.
Ihr Arbeitszimmer hatte ein einzelnes Fenster, das auf die Innenstadt von Del Sombra hinausging – dort war es jetzt bis auf eine Reihe orangefarbener Straßenlaternen dunkel. Ein viktorianisches Zweiersofa mit hoher Lehne stand am Fenster. Auf einem Beistelltisch lagen ein linierter Notizblock, ein Kugelschreiber und die gestrige Ausgabe des San Francisco Chronicle . Es war das einzige Zimmer in der Wohnung, das durch das eindeutige Fehlen jeglicher Bücher auffiel.
»Setzt euch«, sagte Großmutter.
Eliot und Fiona setzten sich so weit voneinander entfernt, wie sie nur konnten, auf das Zweiersofa.
Cecilia stand zögernd in der Tür und sah aus, als sei sie unsicher, ob auch sie hereingebeten worden sei.
Großmutter holte Luft und sagte: »Fangen wir mit der Familie an.«
Eliot wusste, dass sie die Familie ihrer Mutter meinte, nicht die ihres Vaters. Er hätte für sein Leben gern mehr über seinen Vater gehört, aber er hatte das Gefühl, dass er über die Seite der Familie nie etwas von Großmutter erfahren würde. Und dennoch waren beide Familien irgendwie verbunden, das spürte er.
»Für uns haben Kinder Seltenheitswert«, fuhr Großmutter fort, »aus biologischen und praktischen Gründen. Wir sind nicht …« Sie hielt inne und suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Es hat medizinische Gründe.«
Eliot sah Fiona an. Sie nickte und sagte: »Wie die Erbkrankheiten der europäischen Dynastien im siebzehnten Jahrhundert?«
»Alexej Romanow«, fügte Eliot hinzu. »Er hatte doch die Bluterkrankheit, oder?«
Sofort wünschte er sich, er hätte nicht an den Erben des letzten Russischen Reichs gedacht. Alexej Romanow war 1918 von der bolschewistischen Geheimpolizei ermordet worden – zwei
Wochen vor seinem vierzehnten Geburtstag. Er war beinahe in Eliots Alter gewesen. 19
» Nicht wie die Romanows«, sagte Großmutter rasch. »Unsere Kinder waren immer gesund.«
»Sag ihnen, warum es so wenige gibt«, sagte Cecilia hinter ihr und rang die Hände.
Großmutter verengte ihre Augen zu Schlitzen und drehte sich um. Eliot sah den Blick nicht, den sie Cee zuwarf, aber er sah das Resultat: Seine Urgroßmutter sank in sich zusammen und zog sich in die Schatten zurück.
Fiona rutschte auf dem Sofa hin und her. »Warum denn?«
Großmutter sah sie an. »Der Grund dafür, dass es in dieser Familie so wenige Kinder gibt, ist die Familie.«
Cecilia schlich sich zurück in die Tür.
»Die Politik unserer Familie ist kompliziert«, sagte Großmutter, »verräterisch und oft fatal für ihre jüngeren, verwundbarsten Mitglieder.«
»Die Leute bei Onkel Henry …«, sagte Eliot. »Sie haben uns gesagt, dass wir ihre Prüfungen würden ›überleben‹ müssen.« Er erschauerte und dachte an den ermordeten Alexej Romanow. »Sie meinen damit tatsächlich, dass wir sie lebend überstehen müssen, nicht wahr?«
Großmutter schürzte die Lippen, als versuche sie, die Worte zurückzuhalten, sagte aber am Ende: »Ja. Und wir haben Glück, dass wir diese Chance überhaupt bekommen. Viele sind zermalmt worden, ohne dass ihnen auch nur so viel zugestanden worden wäre.«
»Sie sind stark genug zu erfahren, was ihnen bevorsteht«, flüsterte Cecilia. »Erzähl ihnen von den Entführungen, den Verbrennungen … den Verführungen.« Sie versuchte, noch mehr zu sagen, aber ihre Augen glänzten vor Tränen, und ihre Hand umklammerte ihre Kehle.
Großmutter schloss die Augen. »Nun gut. Ihr könnt und dürft euren Verwandten nicht trauen.« Sie öffnete die Augen; ihre Pupillen waren geweitet, als hätte sie in die Dunkelheit geblickt. »Euer reizender Onkel Henry hat sich mit vielen eurer Cousins duelliert, die gerade erst das Mannesalter erreicht hatten. Er heuert junge Damen an und ›entführt‹ sie dann. Das provoziert eine vorhersehbare Konfrontation – und dann ein gebrochenes Genick, eine Kugel ins Hirn oder eine Klinge ins Herz. Er ist ein sehr freundlicher Meuchelmörder, denn seine Methoden sind wenigstens schnell.
Gilbert …« Großmutter biss die Zähne zusammen. »Er hat schon immer eine Vorliebe
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