Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
die Obdachlosigkeit war nur vorübergehend.
Der Mann nickte über Eliots Schulter. »Wie ich sehe, glaubt deine Schwester immer noch, dass ich aus der Psychiatrie geflüchtet bin.«
Eliot konnte sich nicht erinnern, dem Mann erzählt zu haben, dass Fiona seine Schwester war. Er blickte hinter sich und sah, dass Fiona ihn beobachtete. Und irgendetwas kaute.
»Sie ist bloß schüchtern.«
Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Sind wir das nicht alle?«
»Sie wirken viel … besser.«
Es war nicht zu fassen, wie holprig seine Grammatik war – und dass er ein solches Talent dazu hatte, das Offensichtliche festzustellen. Er kannte so viele Wörter. Warum fiel es ihm manchmal so schwer, sie auch auszusprechen?
»Besser, ja. Dank des Wunders einer Dusche bei der YMCA, Seife und einer kräftigen Bürste.« Der Mann hielt inne. »Nein, eigentlich muss ich nur dir danken, mein Wunderknabe.«
»Mir?« » Du hast mich auferweckt. Ich bin Lazarus.« Er ballte die Hände zu Fäusten und hob sie über den Kopf. »Christus, aus dem Grab auferstanden! Donald Trump, umgeschuldet!«
Vielleicht hatte Fiona Recht gehabt, was den Geisteszustand des Mannes anging. Eliot wich einen Schritt zurück, warf einen Blick über die Schulter und sah beruhigenderweise seine Schwester. »Meinen Sie die Musik?«
»Die meine ich.« Der Mann wandte sich einem Einkaufswagen an der Wand des Durchgangs zu. »Und solch eine wundersame Wiederherstellung hat eine Belohnung verdient.«
Eliot trat zwei Schritte näher heran und fragte: »Noch eine Musikstunde?« Er konnte die Geige schon unter seinen Fingerspitzen spüren: das Vibrieren, den Druck, Rhythmus und Crescendo.
Der Mann schnaubte verächtlich. »Eher würde ich die Mona Lisa weiß übermalen.« Er wühlte in dem Einkaufswagen herum, zog einen angeschlagenen, roten Macy’s -Karton ohne Deckel hervor und hielt ihn Eliot schwungvoll unter die Nase.
Eliot nahm den hingestreckten Karton. In dem Augenblick,
als er das Gewicht spürte, wusste er, was es war … konnte es aber nicht glauben. Der Karton war mit Plastikeinkaufstüten gepolstert. Er griff tiefer hinein, fühlte Holz und zog die Geige des Mannes hervor.
»Das Einzige, was du nun brauchst«, sagte der Mann zu Eliot, »ist Übung.«
Eliot drehte das Instrument erstaunt hin und her. Niemand hatte ihm je etwas Vergleichbares geschenkt.
Der Mann reichte ihm den Geigenbogen. »Vergessen wir das hier nicht.«
Eliots Finger ruhten auf den Saiten. Sie schienen durch eine kleine Vibration, die von ihnen selbst ausging, zu ertönen.
Der Wunsch zu spielen war beinahe stärker als irgendetwas sonst, dennoch hielt er sich zurück. Am Tag zuvor hatte er sich fast in dem Lied verloren, doch jetzt konnte er das nicht. Er musste sich auf zu viele andere Dinge konzentrieren: die Arbeit, Prüfungen auf Leben und Tod und eine neue Familie.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sag nichts.« Der Mann legte sich den Zeigefinger an die Lippen, als wolle er psst sagen. »Dein Gesichtsausdruck reicht aus. Außerdem sind Worte die Waffen von Gecken und Narren.«
»Aber ich kann nicht …«
Das war das Letzte, was Eliot sagen wollte, aber er musste es tun. Eine von Großmutters Lebensphilosophien besagte, nie übertriebene Geschenke anzunehmen. Übermäßig großzügige Geschenke haben immer einen Haken , hatte sie zu ihm gesagt. Sie verwöhnen dich. Und dann das ständig wiederholte: Harte Arbeit ist das Fundament des Charakters .
Aber was, wenn er nur dieses eine Mal verwöhnt wurde? Die Geige fühlte sich jetzt schon an, als wäre sie seine. Und allein die Vorstellung, eine Regel zu brechen, brachte sein Blut in Wallung.
Doch Großmutters Ideale waren fest in Eliots Charakter verankert worden, ob er nun wollte oder nicht.
»Ich kann nicht«, flüsterte er. Und dann reichte er, obwohl es das Schwerste war, was er je getan hatte, dem Mann die Geige zurück. »Sie werden sie viel mehr brauchen als ich.«
Alles Leben wich aus dem Gesicht des Mannes, und obwohl keiner von beiden sich gerührt hatte, schien er nun auf Eliot herabzusehen.
»Werde ich das?« Der Mann schnappte sich das Instrument und legte es in den Einkaufswagen. »Im Gegenteil. Ich verlasse dieses Luxusquartier und lasse mein Elend zurück.« Er streichelte die Geige. »Leider sind hiermit zu viele traurige Erinnerungen verbunden, als dass ich sie jetzt behalten könnte.«
»Sie wollen sie einfach da liegen lassen?«
Der Mann zog die Augen zusammen; sie funkelten
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