Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
schelmisch. »Vielleicht wird sie von irgendeinem obdachlosen Mädchen mit Schwefelhölzern gefunden, das sie verbrennt, um sich warm zu halten. Oder eine wahnsinnige Obdachlose wird sie wie eine Ukulele benutzen. Oder vielleicht …« Er legte die Geige in den Rinnstein. »… wird ein Lieferwagen sie zerquetschen.« Er hob den Fuß.
Eliot hatte sich noch nie so schnell bewegt. Er schnappte sich die Geige und zog sie eng an seine Brust.
»Na, hast du deine Meinung geändert?«
»Ja.« Eliot spürte, wie sein Herzschlag durch das Holz und die Saiten pulsierte. Er war sich nicht sicher, wie er die Geige vor Großmutter verstecken würde, aber er konnte nicht zulassen, dass sie zerschmettert wurde.
»Ich werde ruhiger schlafen, wenn ich weiß, dass sie in der Hand eines Meisters ist.« Der Mann kniete sich hin und berührte die Geige. »Sieh her, ich zeige dir ein Geheimnis.« Er kratzte am Holz; ein Klebestreifen löste sich. »Ich musste sie verkleiden. Wenn auch nur einer meiner Nachbarn ihre wahre Natur erkannt hätte … Na, wie man so schön sagt, haste was, biste was!«
Der Korpus des Instruments war mit Tesafilmstücken überzogen. Jedes war mit einem Filzstift schwarz angemalt, zerkratzt und mit Schmutz matt gemacht worden. Sie tarnten das makellos lackierte Holz darunter, das aussah wie flüssiges Gold und funkelnder Topas.
Eliot konnte sehen, wie sich sein Gesicht in der Maserung
spiegelte. Er fühlte sich, als würde er mit der spiegelglatten Oberfläche verschmelzen.
»Das ist schön.«
» Sie ist schön. Sie ist eine Sie . Und ihr Name ist Frau Morgenröte.« Der Mann spreizte die Hand theatralisch über der Geige. »Geschaffen von Antonelli Moroni im 16. Jahrhundert; verglichen mit ihr sind alle anderen quäkende Harpyien. Behandele sie mit dem Respekt, der ihr gebührt.« 28
Sie mit Respekt behandeln? Eliot wollte schon protestieren; hatte der Mann die Geige nicht vor einem Moment noch beinahe unter seinem Absatz zertreten?
Aber der Mann hielt einen Finger hoch. »Du wirst lernen, dass Musikinstrumente nicht die einzigen Dinge sind, auf denen man spielen kann.«
Er hatte die ganze Zeit geplant , Eliot die Geige zu übergeben. Eliot errötete.
Der Mann stand auf und klopfte sich den Mantel ab. »Jetzt muss ich diesen goldenen Palast der Freilicht-Pissoirs und Nagetiere verlassen, um nie zurückzukehren.«
Er streckte Eliot die Hand hin.
Eliot warf einen Blick zurück aus dem Gässchen. Fiona wartete auf der Straße auf ihn und bedeutete ihm mit einer Geste, sich zu beeilen. Ihre Warnung, dass der Mann verrückt sei, hallte in seinen Gedanken wider, aber Eliot drehte sich um und schüttelte ihm trotzdem die Hand. Es schien das einzig Höfliche zu sein.
Es war wie damals, als er Onkel Henry die Hand geschüttelt hatte: Die Haut des Mannes war warm und fest. Aber als Eliot zudrückte, bemerkte er, dass die Hand unnachgiebig wie Stein war. Der Mann hätte ihn packen und ihn wie eine Limonadendose zerquetschen können.
Das Licht wurde schwächer, und obwohl Eliot seinen Blick nicht von dem Mann losreißen konnte, sah er aus dem Augenwinkel
Schatten an den Wänden: Leute, die sich herandrängten, um bessere Sicht zu haben, und die Umrisse eines großen, schnüffelnden Hundes.
Der Mann ließ los.
Die Schatten verschwanden.
»Ein guter Griff. Du wirst stärker sein als ich, wenn du groß bist.«
»Danke«, sagte Eliot, sah seine kleinen Hände an und bezweifelte das doch sehr.
»Ich bin Eliot.«
»Louis. Louis Fänger. Schön, deine Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe, wir treffen uns irgendwann einmal unter anderen Umständen wieder.«
»Ja.« Eliot warf einen Blick auf die wartende Fiona. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte ihn böse an. »Ich gehe jetzt besser.«
Aber der Mann hatte sich schon abgewandt und war den Durchgang halb entlanggegangen; er pfiff vor sich hin.
Eliot ging zu seiner Schwester.
Fionas Blick fiel auf die Geige. »Was willst du damit denn machen?«
Eliot nahm den Rucksack ab, packte den Inhalt um und schob Frau Morgenröte sorgsam in einen Gummistiefel. »So.«
»Und was ist mit Großmutter?«
»Das überlege ich mir später. Ich musste sie nehmen.« Fiona schüttelte den Kopf. Vor Gereiztheit war sie ganz rot geworden, als sie sich nun abwandte und davonging.
Eliot warf sich den Rucksack über die Schulter und holte sie ein. »Du petzt doch nicht, oder?«
Sie blieb stehen. Der Mund klaffte ihr auf, und sie legte eine Hand aufs Herz –
Weitere Kostenlose Bücher