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Gemischte Gefühle

Gemischte Gefühle

Titel: Gemischte Gefühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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treiben, wo er, wie jeden Tag, einen Zug der Linie 6 bestieg. Die U-Bahn-Fahrt in die Vorstadt dauerte wie immer exakt vierzig Minuten. B. kaufte sich am Kiosk der Station eine BILD-Zeitung, die er sorgfältig zusammenfaltete und in die Manteltasche steckte, und legte das letzte Stück seines Heimwegs geistesabwesend zurück, wobei er wie immer den Weg durch den Park wählte.
    Nach dem Abendessen schaltete B. den Fernsehapparat ein und sah sich die Tagesschau an. Während des darauf folgenden Fernsehspiels überkam ihn eine vorher nie gekannte Unlustempfindung. Er wechselte das Programm, aber auch die Sendungen auf den anderen Kanälen interessierten ihn nicht. Früher als sonst ging er zu Bett. Er hatte erwartet, nicht sogleich einschlafen zu können, aber kaum hatte er das Licht gelöscht, als er auch schon in einen tiefen Schlaf versank.
    Als er am nächsten Morgen aufwachte, versuchte er erfolglos, sich an den beklemmenden Traum zu erinnern, den er in dieser Nacht gehabt hatte. Aber nur das unbestimmte Beklemmungsgefühl und ein verschwommenes Bild seines verstorbenen Vaters waren ihm von diesem Traum geblieben. In Gedanken versunken nahm er sein Frühstück zu sich.
    Gegen neun verließ er das Haus und fuhr mit der U-Bahn zum Zentrum. Der Wagen war leerer als sonst, was B. nicht überraschte, denn die meisten Männer und Frauen, die in der Vorstadt lebten, fuhren bereits zwei oder sogar drei Stunden früher zur Arbeit.
    Das Zentrum, B’s Ziel, hatte eine eigene U-Bahn-Station. Mit einem Paternoster fuhr B. hinauf in die große Vorhalle des Zentrums. Am Informationsschalter zeigte er seinen Bescheid vor, und die junge Frau hinter dem Schalter wies ihm mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit den richtigen Weg. Nach kurzer Suche fand B. den Warteraum der Buchstabengruppe A bis D, legte Mantel und Hut ab und ließ sich auf einer der harten Holzbänke nieder. Außer ihm warteten noch fünf weitere Männer auf ihren Aufruf. Ein Gespräch kam jedoch nicht zustande.
    Im Warteraum lagen keine Illustrierten aus, so daß B. gezwungen war, sich in Gedanken mit dem Bevorstehenden zu beschäftigen. Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick über die farbigen Portraitfotos an den weißen Wänden schweifen, die die Bundespräsidenten und Bundeskanzler der Nachkriegszeit zeigten. Besonders lange verweilte B’s Blick auf dem Foto des amtierenden Bundeskanzlers. Obwohl er ihn erst gestern in den Nachrichten gesehen hatte, betrachtete B. das Portrait dieses Mannes so gründlich, als sehe er dieses Gesicht zum ersten Mal. Nie zuvor waren ihm die schweren Tränensäcke, die schlaffe Haut an Hals und Wangen und die zahlreichen geplatzten Äderchen überall unter der Haut so deutlich aufgefallen. Hinter dem abgebildeten Gesicht war die Staatsfahne zu erkennen.
    B's Magen verkrampfte sich, als der erste der Wartenden aufgerufen wurde. Als sich die schalldichte Tür hinter dem jungen Mann schloß, verspürte B. ein leichtes Sodbrennen. Er stand auf und holte sich eine Lutschtablette aus einer Manteltasche. Als er die Tablette aus ihrer Umhüllung drückte, bemerkte er, daß seine Hände feucht vor Schweiß waren. Auch auf seiner Stirn hatte sich Schweiß gesammelt. Obwohl es ihm peinlich war, trocknete B. Gesicht und Hände mit seinem Taschentuch, bevor er sich wieder hinsetzte.
    Etwa jede Viertelstunde erfolgte nun ein neuer Aufruf. B. warf einen Blick auf seinen Bescheid und vergewisserte sich, daß er auch wirklich für 9.30 Uhr ins Zentrum bestellt worden war. Seine Armbanduhr zeigte jetzt 10.15 Uhr.
    Schließlich wurde der alte Mann, der unmittelbar vor B. an der Reihe war, aufgerufen. Nun verstärkten sich B’s Magenschmerzen immer mehr.
    Inzwischen hatte sich der Raum wieder mit Neuankömmlingen gefüllt, aber auch jetzt kam keine Unterhaltung zustande. Man wartete schweigend, in den Käfig der eigenen Gedanken eingesperrt. B. schluckte immer wieder nervös und spürte, wie er langsam zu zittern begann.
    Diese letzte Viertelstunde verging langsamer als die gesamte Wartezeit davor. Endlich wurde auch B. aufgerufen. Er stand unsicher auf und folgte der Assistentin benommen durch einen langen Korridor in den Applikationsraum. Ein kräftig gebauter Mann erwartete ihn dort. Er war in einen weißen Kittel gekleidet und schien auf unbestimmbare Weise dem weißgekachelten Raum zugehörig zu sein; ganz so, als sei er außerhalb dieses Raumes nicht als menschliches Wesen denkbar. Der Weißgekleidete begrüßte B. knapp und bat ihn um den

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