Gemma
Sturm wie diesen erlebt in all seinen
Jahren auf See. Bryce fühlte seine Finger, die er um das Holz des Steuers
gekrallt hatte, schon lange nicht mehr, aber auch ohne sie zu fühlen und trotz
des eisigen, nadelscharfen Regens und der Gischt, die ihn blendeten, wusste er,
dass ihm die Haut bereits vor langer Zeit von den Händen gerissen worden war
und dass es sein Blut war, das das Ruder glitschig unter seinem Griff werden
ließ. Mit jeder weiteren Attacke des Sturmes und der Wellen fühlte er, wie
seine Muskeln mehr und mehr gegen ihre Misshandlung protestierten, und es war
nur eine Frage der Zeit, bis er nicht mehr die Kraft haben würde, die Dragonfly gegen die Wellen zu steuern. Sobald er das Steuer losließ, würde das
Schiff sich in die Welle drehen und kentern.
Als hätte er Bryce' Gedanken gelesen, gab Jess einem der Männer zu
verstehen, er sollte jemanden als Ablösung heraufschicken, bevor auch er sich
gegen das Ruder warf und Bryce seine Stärke lieh, um jedem an Bord ein wenig
mehr Zeit zu verschaffen.
Beide hörten das Geräusch zur selben Zeit und hoben die Köpfe in
dem Versuch, die Dunkelheit und die Wasserschleier mit den Augen zu
durchdringen. Als sie es geschafft hatten, ihre Augen vom brennenden Salzwasser
zu befreien, blickten sie geradewegs in den Schlund der Hölle.
Für einen Moment schien die Dragonfly auf der Krone ihrer
Welle zu tanzen, zögernd, ob sie den Sprung in den nächsten Abgrund, der sich
vor ihr auftat, wagen sollte. Sie schien vollkommen ahnungslos ob der Gefahr,
die sich genau vor ihr zusammenbraute. Die Zeit schien stillzustehen, während
nur der gewaltige Wasserberg, der sich vor dem Bug der Dragonfly auftürmte,
höher und höher in den Himmel wuchs, bis er den gesamten Horizont ausfüllte.
Mit schreckgeweiteten Augen starrten Bryce und Jessup auf die gigantische
Welle. Auch die Dragonfly erkannte jetzt ihr Schicksal und stürzte sich
todesmutig von der Wellenkrone in die Tiefe, bevor die Flutwelle über ihr
zusammenschlug und sie mit ihren gewaltigen, zuschnappenden Kiefern verschlang.
Als sie ihre Augen langsam öffnete, war Gemma überrascht, noch am
Leben zu sein. Ihr tat jede Stelle ihres Körpers weh, aber es war der Schmerz,
der ihr versicherte, dass sie noch einmal davongekommen war. Benommen sah sie
sich um. Sie lag auf dem Bett, wohin sie durch die Wucht des Aufpralls, als das
Schiff sich anscheinend auf den Kopf gestellt hatte, geschleudert worden war.
»Tabby«, krächzte sie und musste husten.
Schmerz raste durch ihren Körper. Anscheinend war sie nicht nur auf das Bett
geworfen worden. Zögernd stützte sie sich auf. Die Dragonfly schlingerte
noch immer bedrohlich hin und her und ließ die Sturmlaterne am Trägerbalken
hin- und herschwingen, aber das Brechen der Wellen gegen den Schiffsrumpf
hatte merklich nachgelassen.
»Tabby«, versuchte sie es noch einmal. Sie hörte jemanden stöhnen
und krabbelte vom Bett und auf das Geräusch zu.
Tabby hatte nicht so viel Glück gehabt. Er war gegen die
Kajütenwand geschleudert worden und lag am Fuße der Koje. Gemma kniete sich
neben ihn.
»Tabby, kannst du mich hören?« Vorsichtig untersuchte sie seinen
Schädel, konnte aber kein Blut ertasten, wo sein harter Kopf mit der Wand
Bekanntschaft gemacht hatte. Widerstrebend öffnete Tabby die Augen. Wieder
stöhnte er.
»Beweg dich nicht, Tabby. Ich hole Hilfe.« Gemma kämpfte darum,
ihr Gleichgewicht zu halten.
»Nein«, hielt Tabbys schwache Stimme sie zurück. »Ich bin in
Ordnung.« Er versuchte sich aufzusetzen, sank aber mit einem schmerzerfüllten
Aufschrei zurück. Sofort kniete Gemma wieder an seiner Seite.
»Wo tut's weh, Tabby?«, fragte sie besorgt.
Er schenkte ihr ein wackliges Lächeln. »Überall. Könnt Ihr mir
aufhelfen, Kindchen?«
»Ja, ja natürlich.« Gemma legte ihre Arme um
seine Brust und versuchte, ihn anzuheben. Scharf sog Tabby den Atem ein. »Ich
glaub, da is' 'ne Rippe gebrochen«, meinte er an Gemma gewandt, aber es gelang
ihr dennoch, ihn so weit aufzurichten, dass Tabby mit dem Rücken an die Wand
gelehnt saß. Gemma ließ ihre Hände über seinen Brustkorb gleiten.
»Du hast Recht. Diese Rippe ist ganz sicher gebrochen.« Gemma
schob sein Hemd hoch und zog eine Grimasse, als sie die vielen Prellungen an
seinem Körper sah. Ihr eigener würde nicht viel besser aussehen.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, du hast auch dein
rechtes Schlüsselbein gebrochen.« Vorsichtig strich ihre Hand über den
Weitere Kostenlose Bücher