Gemma
und setzte mit leisem Bedauern die leere Tasse ab. Vielleicht sollte
sie Sir Ranleighs Vorschlag, sich vor dem Tee noch ein wenig hinzulegen,
beherzigen. Sie fühlte sich in der Tat ein wenig müde, etwas das zu dieser
frühen Tageszeit für sie äußerst ungewöhnlich war.
Vor dem Bett stand ihre Truhe und Gemma fischte in ihrer Tasche
nach dem Schlüssel. Mit einem leisen Klicken öffnete sie das Schloss und nahm
ein Nachthemd heraus. Seltsam, dass die nur wenige Stunden dauernde Kutschfahrt
sie derart ermüdet hatte. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten.
Schnell entkleidete Gemma sich und streifte ihr Nachthemd über.
Dann legte sie sich ins Bett. Die Augen fielen ihr zu, noch bevor ihr Kopf das
Kissen berührt hatte.
Der nächste
Morgen präsentierte sich grau, mit tiefhängenden Wolken und einem eiskalten
Wind. Als Gemma erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand.
Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und sie hatte einen pelzigen Geschmack
im Mund. Sie blieb liegen und starrte auf den Baldachin, der ihr Bett
überspannte. Das war doch nicht ihr Bett ...
Langsam kehrte die Erinnerung zurück an die Kutschenfahrt, Kenmore
Manor – und auch daran, dass sie sich lediglich vor dem Tee ein wenig hatte
hinlegen wollen!
Großer Gott! Mit einem Satz sprang Gemma aus dem Bett. Wie hatte
sie nur so lange schlafen können? Und warum hatte man sie denn nicht geweckt?
Eilig goss sie ein wenig Wasser in die Schüssel, um sich den Schlaf aus den
Augen zu waschen, als es leise an der Tür klopfte.
Gemma zuckte zusammen.
»Ja bitte!«, rief sie überrascht.
Ein Dienstmädchen steckte den Kopf zur Tür
herein und trug ein großes Tablett ins Zimmer. Es duftete verlockend nach
heißem Kakao und frischen Croissants, und Gemma spürte, wie ihr Magen sich vor
Hunger zusammenzog.
»Guten Morgen, Miss. Ich heiße Bridget und
werde mich um Euch kümmern, solange Ihr hier seid. Ich hoffe, Ihr habt gut
geschlafen«, grüßte das Mädchen fröhlich und setzte das Tablett auf dem Tisch
ab. »Ihr müsst halb verhungert sein, Miss, darum bringe ich Euch ein etwas
größeres Frühstück, nachdem Ihr gestern ja das Abendessen verpasst habt.«
»Warum hat mich denn niemand geweckt?«, fragte Gemma verwundert,
noch immer darüber irritiert, dass sie so lange geschlafen hatte.
»Das habe ich ja versucht, Miss, aber Ihr habt so tief und fest
geschlafen, dass ich Euch nicht aufwecken konnte. Der Herr meinte, ich solle
Euch schlafen lassen, weil Euch die Reise so angestrengt hätte.«
»Der Herr?«
»Sir Ranleigh. Er ist im Moment unser Herr, weil sein Onkel und
sein Cousin nicht da sind.«
»Hier wohnen also noch mehr Leute außer Sir Ranleigh?«, fragte
Gemma.
»Aber natürlich. Na ja, so viel mehr sind es nicht. Sir Ranleighs
Onkel wohnt hier, wenn er sich nicht gerade in London aufhält, was er aber für
gewöhnlich tut, und manchmal auch sein Sohn. Aber das ist noch seltener, weil
er zur See fährt.«
Gemmas Herz schlug höher bei dem Gedanken an einen Seefahrer in
der Familie. Vielleicht kannte dieser Mann ja sogar ihren Vater, aber zumindest
konnte sie sich ganz bestimmt wundervoll mit ihm unterhalten. Sie wünschte
sich so sehr, einmal wieder Geschichten aus der großen weiten Welt zu hören.
»Wird einer der Herren demnächst zurück
erwartet?«, fragte Gemma betont beiläufig, aber Bridget schüttelte den Kopf.
»Nein, aber sie kündigen ihre Besuche auch
niemals lange im Voraus an, weil ja Sir Ranleigh hier wohnt und das Haus nicht
extra für einen Besuch geöffnet werden muss. Sie sagen, wenn überhaupt, nur
sehr kurzfristig Bescheid. Es ist allerdings recht unwahrscheinlich, dass Lord
Kenmore um diese Jahreszeit hierher kommt. Jetzt und in den kommenden Wintermonaten
findet doch in London die Ballsaison statt. Auch Sir Ranleigh wird bald für
einige Wochen nach London übersiedeln.« Während sie sprach, goss Bridget
duftende Schokolade in eine Tasse und wandte sich dann an Gemma.
»Möchtet Ihr hier am Tisch frühstücken oder
lieber im Bett?«
Frühstück im Bett.
Wie lange war es schon her, seit sie es das letzte Mal auch nur
gewagt hatte, einen derart dekadenten Gedanken zu fassen?, fragte sich Gemma.
Die Verlockung eines Frühstücks im Bett war einfach zu groß, und warum sollte
sie sich, solange sie hier war, nicht einmal wieder nach Herzenslust verwöhnen
lassen? Schon bald genug würde sie wieder in das triste Leben im Haus ihrer
Tante zurückkehren.
Flugs schlüpfte sie
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