Gemma
und strich eine Falte aus dem Rock des
Samtkleides, das sie über einen Stuhl gehängt hatte.
»Und hast du ihn damals gesehen?«, wollte Gemma gespannt wissen.
»Großer Gott, nein«, rief Bridget entsetzt aus und bekreuzigte
sich diesmal wirklich. »Lieber würde ich dem Teufel begegnen!«
Gemma grinste. Wenn man Bridget Glauben schenken konnte, schien es
da keinen allzu großen Unterschied zu geben. »Und warum?«
Bridget trat näher ans Bett. »Weil Sir Bryce ein Verführer
unschuldiger Jungfrauen ist, deshalb«, hauchte sie düster. »Keine Frau, wie
keusch und gottesfürchtig sie auch immer sein mag, kann sich der schwarzen
Magie seines Verlangens widersetzen.«
Ein Schauer rann Gemma über den Rücken, als sie Bridgets dunklen
Beschreibungen lauschte. Nicht, dass sie an so etwas wie schwarze Magie
glaubte, aber dennoch konnte sie sich der Macht von Bridgets beschwörenden
Worten nur schwer entziehen.
»Aber ich denke, er ist vernarbt?«, fragte sie ebenso leise, um
die düstere Atmosphäre nicht zu stören, die Bridget um sie gewoben hatte.
»Stößt das die Frauen denn nicht ab?«
Bridget schüttelte den Kopf. »Oh nein. Sir
Bryce ist so schön wie ein gefallener Engel. Sagt zumindest Heather, die Küchenmagd.
Sie hat ihn bei seinem letzten Besuch gesehen, und sie sagt, dass sie noch nie
einen schöneren Mann gesehen hat.«
In Gedanken versuchte Gemma, diesen geheimnisvollen Sir Bryce mit
Sir Godfroy in all seiner goldenen Schönheit zu vergleichen. Sahen die Männer,
die Cousins, sich ähnlich? »Wie sieht Sir Bryce denn eigentlich aus?«
»Er ist so dunkel wie der Teufel persönlich.
Er hat eine wilde schwarze Mähne und Augen so grau und kalt wie Eis.« Gemma
runzelte die Stirn. So sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht,
Bridgets Beschreibungen mit dem Begriff >schön< in Einklang zu bringen,
aber Bridget war noch nicht am Ende. »Heather sagt, sein Körper sei von
animalischer Schönheit und sein Kuss erst ... Ach, sein Kuss hätte sie dahinschmelzen
lassen.« Schwärmerisch hatte Bridget ihre Hände über ihre Brust gepresst und
seufzte gequält, als würde allein der Gedanke an einen solchen Kuss ihr Herz
schneller schlagen lassen.
»Gibt es denn keine Bilder von Sir Bryce?«, fragte Gemma, von
Bridgets dürftiger Beschreibung ein wenig enttäuscht, aber dennoch neugierig,
wie ein gefallener Engel in Bridgets Fantasie wohl aussehen mochte.
Bridget zuckte mit den Achseln. »Also ich habe noch keines
entdecken können. Die Gemälde, die Lord Kenmore und seinen älteren Sohn,
Robert, zeigen, der vor Jahren verstorben ist, hängen alle in der Bibliothek,
aber Sir Bryce ...? Vielleicht ist er nie porträtiert worden.«
Seltsam. Gemma beendete ihr Frühstück, während Bridget
hinauseilte, um heißes Wasser für Gemma zum Waschen zu holen. Warum war Lord
Kenmore so versessen darauf, dass sein Sohn sein Erbe antrat, wenn er ihn
anscheinend nicht ausstehen konnte? Bis auf Weiteres würde sie wohl keine Antworten
auf ihre Fragen erhalten.
Andererseits hatte sie aber auch noch ganz andere Sorgen. Warum
war sie hier? Was hatte sie mit Sir Ranleigh zu schaffen? Und woher kannte
ihre Tante ihn?
Zögernd klopfte
sie an die Tür zur Bibliothek und sah hinein, als niemand antwortete. Der Raum
war leer. Leise schloss sie die Tür wieder und sah sich in der Halle um. Sie
fühlte sich seltsam deplatziert, als sie langsam über den Marmorboden schritt.
Das Haus war totenstill, nur das Heulen des Windes war zu hören und das
Prasseln des Regens, der von den Sturmböen gepeitscht gegen die Fenster
getrieben wurde. Als sie nach einer halben Stunde noch immer keiner Menschenseele
begegnet war, beschloss sie, sich in die Bibliothek zurückzuziehen und auf
ihre Tante und ihren Onkel zu warten – und natürlich auch auf den
geheimnisvollen Sin Ranleigh.
Es war
bereits Nachmittag, als die Robbins und mit ihnen Sir Ranleigh zurückkehrten.
Sie waren guter Dinge und Gemma hörte ihre Tante kichern, etwas, das sie noch
nie zuvor von ihr gehört hatte. Daneben erklang das tiefe Lachen von Sir Ranleigh.
Seine Stimme klang sehr nett, aber trotzdem erschauderte Gemma, als sie sie
hörte. Sie rief sich selbst zur Ordnung und klappte das Buch, in dem sie
gelesen hatte, zu. Bevor sie sich erheben konnte, schwang die Tür zur Bibliothek
auf.
»Oh«, vernahm sie Sir Ranleighs Stimme, »wen haben wir denn hier?«
Er trat ein und kam auf sie zu. Neugierig nahm er ihr das Buch vom Schoß und
las den
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