Gemma
wieder ins Bett, und
Bridget stellte ihr das Tablett mit einem kleinen Tischchen auf den Schoß. Genussvoll
trank Gemma einen Schluck heiße Schokolade, bevor sie das Gespräch wieder auf
ihre mysteriösen Gastgeber brachte.
»Und was ist mit Lord Kenmores Sohn?«
Bridget erschrak bei der Frage und presste
eine Hand auf ihr Herz. Für einen Augenblick befürchtete Gemma, sie würde sich
auch noch bekreuzigen.
»Der Sohn Seiner Lordschaft?«, wisperte sie dann, als könne sie
irgend jemand außer Gemma hören.
Sie blickte über ihre Schulter und ihre
Stimme sank zu einem noch leiseren Flüstern herab, wobei sie sich vorbeugte,
damit Gemma ihre Worte überhaupt verstehen konnte. Anscheinend hatte Gemma ein
heikles Thema angesprochen.
»Ihr solltet Bryce Campbell in Gegenwart von Sir Ranleigh oder
seines Onkels besser nicht erwähnen. Wenn ich an das letzte Zusammentreffen
denke ...«
Gemmas Neugierde war geweckt. Die Tatsache, dass sie zudem eine
willige und anscheinend auch äußerst ergiebige Informationsquelle gefunden
hatte, musste sie ausnutzen.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie genauso leise im Verschwörerton.
Wieder sah das Mädchen sich um, als befürchtete sie, einer der Herren, über
die sie sprach, könnte plötzlich hinter ihr aus dem Boden wachsen.
»Bei seinem letzten Treffen hat Lord Kenmore gedroht, Sir Bryce in
Ketten zu legen und ihn zu zwingen, sich um die Güter zu kümmern. Er wollte
sogar sein Schiff verbrennen. Sir Bryce war so wütend, dass er geschworen hat,
Lord Kenmore eher umzubringen, als sich von ihm hier an Land festnageln zu
lassen, und dass er es eigenhändig tun würde, wenn seinem Schiff etwas zustoßen
sollte, solange es im Hafen liegt. Ich glaube, Sir Ranleigh hofft insgeheim,
dass der alte Lord ihn zum Erben macht, wenn Sir Bryce sich weiterhin weigert,
sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen.«
Gemma versuchte, sich den Familienstreit bildlich vorzustellen.
Der alte Lord und sein Sohn, die sich anschrien, und der schöne Sir Ranleigh
als lachender Dritter. Wenn sie an die erste Reaktion des Mädchens dachte, als
sie nach Bryce Campbell gefragt hatte, musste der Mann ein wahrer Teufel sein.
Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn der Lord Sir Godfroy zu seinem Erben
ernannte.
»Ist dieser Sir Bryce denn so schlimm?«, wollte Gemma wissen,
während sie zartschmelzende Butter auf ihr warmes Croissant strich.
»Oh, sogar noch schlimmer«, versicherte ihr Bridget und rückte die
Stühle um den Tisch zurecht, um ihren Händen etwas zu tun zu geben. »Er ist
groß und finster und fürchterlich vernarbt.«
Gemma verschluckte sich an einem Krümel, und Bridget schlug ihr
auf den Rücken, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Vernarbt?«, ächzte Gemma und trank einen Schluck, um ihren Hals
zu beruhigen.
»Oh ja. Eine schrecklich lange Narbe läuft
ihm von hier bis hier«, Bridget fuhr mit ihrem Zeigefinger von ihrem Haaransatz
über die linke Wange bis hinab zum Kinn, »quer übers Gesicht. Ich habe sogar
schon Gerüchte gehört, wonach der alte Lord ihm diese Narbe bei einem Streit
selbst beigebracht haben soll. Könnt Ihr Euch das vorstellen, dass ein Vater
seinen eigenen Sohn so entstellt?«
Stumm, mit weit aufgerissenen Augen, schüttelte Gemma den Kopf.
Nein, so etwas ging weit über ihre Vorstellungskraft hinaus. Was war Lord
Kenmore nur für ein Vater, um zu so etwas fähig zu sein? »Und Sir Bryce kommt
trotzdem noch hierher zurück?«, fragte sie leise, als würde auch sie befürchten,
plötzlich ungebetene Zuhörer zu bekommen.
»Ja, aber nur selten. Wie gesagt, er ist Seemann. Ich glaube
sogar, er ist Kapitän auf seinem eigenen Schiff, und er lebt die meiste Zeit in
diesem – Amerika. Lord Kenmore nennt es immer nur >die verhassten
Kolonien< und würde alles dafür geben, wenn Sir Bryce endlich sein Erbe
hier in Kenmore antreten würde.«
Nachdenklich spießte Gemma etwas von dem lockeren Rührei auf ihre
Gabel und verspeiste es. Das Frühstück, das Bridget ihr serviert hatte, war
köstlich, und langsam begannen ihre Lebensgeister, sich wieder zu regen.
»Wann ist Sir Bryce denn zum letzten Mal hier gewesen?«, fragte
sie einige Minuten später, in denen Bridget ihr ein frisches Kleid aus dem
Schrank herauslegte. Anscheinend hatte sie am Abend, während Gemma geschlafen
hatte, ihre Truhe ausgeräumt und die Sachen in den Schrank gehängt.
»Ich weiß nicht genau, aber es muss wohl schon so zwei oder drei
Jahre her sein«, meinte Bridget
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