Gemordet wird immer
Dank ausrichten. Und du sollst dir keine Gedanken wegen jemandem namens Kesselring machen. Sie hat das erledigt.«
Viktor war zu müde für ein Grinsen. »Ist gut«, sagte er. Dann schlurfte er zur Treppe.
Oben empfing ihn Gekicher und das Klirren von Gläsern. Tante Hedwig, einen Prosecco in der Hand, hing etwas schief auf einem Stuhl und prostete Miriam zu, die mit überschlagenen Beinen auf dem Boden neben ihr saß. Tobias blickte auf einen summenden Bildschirm. Von diesem Anblick überfordert schaute Viktor von einem zum anderen.
»Was ist?«, fragte er. Hoffnung keimte in ihm auf, als Miriam auf einen ganzen Packen Ausdrucke wies, und er schnappte ihn sich hastig.
»Das hat alles Tobias geschrieben«, verkündete seine Tante. Sie strubbelte ihrem Sohn, wohl nicht zum ersten Mal an diesem Abend, durch die Haare und küsste ihn auf die Schläfen, was der mit einem versonnenen Lächeln in Richtung Fußboden quittierte. »Er hat sich einfach hingesetzt und angefangen zu tippen. Ein Blick auf die Tastatur hat ihm genügt. Es war fantastisch, ein Wunder. Viktor, ich bin dir so dankbar.«
Sie stand auf und machte Anstalten, ihn zu umarmen. Mühsam versuchte er, einen Blick in die Aufzeichnungen zu werfen und dabei das Gleichgewicht zu halten. »Schon gut, Tante«, murmelte er. »Ich hatte eben so eine Ahnung.« Mit vor Müdigkeit und Aufregung zitternden Fingern nahm er die erste Seite. Gleich würde er einen Blick auf die Korrespondenz von Bulhaupt werfen können, das Orakel hatte gesprochen. Er war wirklich ein Genie.
»Wenn ich daran denke, dass das in ihm gesteckt hat, all die Jahre.« Über Hedwigs gerötetes Gesicht liefen Tränen. »Dabei haben mir die Ärzte gesagt, es sei hoffnungslos. Er würde nie irgendetwas lernen können. Mein Junge.« Wieder überhäufte sie Tobias mit Küssen. Viktor war der Anblick ein wenig peinlich.
»Damals wusste man über Autismus noch nicht so viel«, schaltete Miriam sich ein.
»Aber ich habe es immer geahnt.« Hedwigs Tränen flossen nun ungehemmt. Tobias strahlte noch immer.
»Wir haben ihn dein Fußballkicker-Album zerschneiden lassen, du hast doch nichts dagegen«, sagte Miriam und hielt das zerfledderte Heft hoch.
Viktor gönnte der Sache keinen Blick. Er überflog Seite um Seite, blätterte immer schneller:
»Vor einem großen Wald lebte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel.« Er schaute auf. »Das ist Grimm«, sagte er. Er blätterte weiter: »Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, da dachte es sich …« Er schmiss die Seite von sich und las auf der nächsten. »Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?« Ernüchtert ließ er den Packen sinken. »Er hat das verdammte Märchenbuch abgetippt.«
»Fast fünfzig Seiten.« Seine Tante schaute ihn mit fassungsloser Freude an. »Wie eine Maschine.«
Viktor war enttäuscht. Es sah so aus, als hätte er sich für die Briefe von Bulhaupt überhaupt nicht interessiert.
Auch Miriam strahlte. »Das ist wunderbar. Das ist etwas ganz Großes, was da heute passiert ist.«
»Ja«, brummelte Viktor. »Wir wissen jetzt, dass wir ihm was anderes zu lesen geben sollten. Erst mal die Schatzinsel, dann Moby Dick, und dann können wir langsam zu den Börsenberichten und den Playboy-Heften übergehen.«
»Du bist ein Zyniker.« Miriam verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich wieder Hedwig und Tobias zu.
»Gleich morgen rufe ich bei einem Logopäden an«, verkündete Hedwig. »Miriam hat mir das vorgeschlagen.« Sie ergriff dankbar ihre Hand. »Und dann werden wir miteinander reden lernen, Tobi und ich, mit dem Computer.«
»Du machst dich hier ja echt unentbehrlich.« Viktor konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vorwurfsvoll klang.
»Bei manchen Leuten sicherlich«, gab Miriam zurück und drehte ihm wieder den Rücken zu, um erneut mit Hedwig anzustoßen.
Viktor blieb allein. Einen Moment bedauerte er es, Miriam nicht von seinem Tag erzählen zu können, dann überwogen die Müdigkeit und der Unmut. Er verzog sich in die Wohnung seiner Eltern, ging ins Bad und schloss die Tür nachdrücklich hinter sich zu. Als er mit sich alleine war, nahm er den Leichengeruch wahr, der immer noch an ihm hing, die fade Süße des zersetzten Fleisches, die beißende Note des Gifts und die moosige Feuchtigkeit dieser Grotte. Nie
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