Gemordet wird immer
und ausgelaugt. Eine ungute Mischung, die ihn befürchten ließ, dass er sich noch lange im Bett herumwälzen und am Ende wieder in einen seiner Alpträume fallen würde. War überhaupt Vollmond?, fragte er sich und überlegte, ob er in die Küche hinuntergehen sollte, wo der Mondphasenkalender seiner Tante hing. Sie meinte, dass Tobias anfällig dafür sei. Aber er ließ es bleiben. Er hatte keine Lust, seinem Onkel über den Weg zu laufen und eventuell Fragen zur Rede beantworten zu müssen. Die sollte morgen seine ganz persönliche Überraschung für alle werden. Stattdessen ging er in das Schlafzimmer seiner Eltern.
Er erinnerte sich, in der Schublade seiner Mutter neben all den anderen Tabletten auch ein Schlafmittel gesehen zu haben. Das Verfallsdatum war leicht überschritten, aber als er die trockene weiße Pille auf seiner Hand liegen sah, dachte er, dass sie wohl kaum verderben konnte, und schluckte sie. Sicherheitshalber nahm er noch eine weitere. Dann legte er sich ins Bett. Entspannung fand er keine, die Gedanken in seinem Kopf rotierten.
Er wünschte, Miriam würde mit ihm sprechen, damit er zumindest einem Menschen erzählen könnte, was er entdeckt hatte. Dass Bulhaupt seinen Nachbarn wegen des streunenden Hundes verklagt hatte und von diesem per Anwalt mit einer Gegenklage bedroht worden war. Und das Wort Hund in Zusammenhang mit Bulhaupt ließ ihn unweigerlich ans Erschießen, also an Gewehre, also an Mord denken. Er hatte das deutliche Gefühl, dass der Vierbeiner der Schlüssel zu allem war.
Noch einmal wählte er Miriams Nummer, aber es meldete sich nur ihr Anrufbeantworter. Unglücklich legte er auf, wobei seine Hand ein wenig zitterte, und ihm schien, als würden auch seine Augäpfel irgendwie vibrieren. Er hatte das Bedürfnis, die Augen zu schließen, gleichzeitig machte ihn das permanente Beben fast wahnsinnig. Schlaf würde er so jedenfalls nicht finden.
Er wendete sein Kissen dreimal, stopfte es schließlich gegen die Wand und setzte sich auf. Dann würde er eben noch einmal seine Notizen zu Rate ziehen. Doch der ausgedruckte Text mit den vor Frische glänzenden Tintenbuchstaben war zu viel für ihn. Die Zeilen und Zeichen tanzten vor seinen Augen, dass ihm schwindelig davon wurde, und er legte sie rasch wieder weg. Aber die Liste mit den Namen, die er sich vorhin beim Lesen herausgekritzelt hatte, ließ ihn nicht los. Heidi Gröhne, das war ein Mädchen mit Zöpfen gewesen, eine Schönheit wie aus einem Fünfzigerjahre-Film. Viktor erinnerte sich noch, dass er sich immer gefragt hatte, ob sie wirklich echt war. Nadine war ein Ass in der Theatergruppe gewesen. Im Sommernachtstraum hatte sie eine tolle Feenkönigin gespielt, mit pink gesprayten Haaren, dem Make-up einer Punkerkönigin und einem Outfit aus einer Motorradjacke und schimmernder Folie. Der Pfarrer hatte gegen die anzügliche, dekadente Inszenierung einen Leserbrief geschrieben, eine Art Streitschrift, die den größten Teil der Lehrerschaft und die meisten Schüler auf die Barrikaden gebracht hatte. Was Nadine wohl dabei empfunden haben mochte?
Verena war in dieselbe Klasse gegangen wie Hannah. Sie mussten also auch den Firmunterricht gemeinsam besucht haben, in dem es passiert war. Dass Hannah so nah dran gewesen war am Geschehen, verursachte Viktor eine leichte Gänsehaut. Sie hatte neben dem Mädchen gesessen, vielleicht ihre Angst, ihren Ekel gespürt. Sie womöglich sogar gefragt, ob es ihr nicht gut ging. Hatte sie eine Antwort bekommen? Hannah war eine Person gewesen, der die Menschen gerne ihr Herz ausschütteten. Sie war fröhlich, zupackend, sie gab einem das Gefühl, dass sich eine Lösung finden würde. Ihm zumindest hatte sie dieses Gefühl immer vermittelt. Es hatte schon genügt, wenn sie ihn angelacht hatte, mit ihren verdammt noch mal blauen Augen. Ob auch Verena sich ihr anvertraut hatte? Was hätte Hannah dann wohl getan?
Zum ersten Mal dachte er wieder an das Tagebuch. Er hatte es bisher nur oberflächlich durchblättert, teils aus einer Art Pietät heraus, teils aus Angst, es durch die Berührung endgültig zu zerstören. Aber jetzt hatte er eine Frage und dazu das Gefühl, im Tagebuch einen wichtigen Hinweis finden zu können.
Er rollte sich auf die Seite, um an seine Nachttischschublade heranzukommen. Gemeinsam mit ihm kippte das gesamte Zimmer nach links. Ihm wurde übel. Er richtete sich auf, aber der Raum um ihn wollte sich nicht beruhigen, er kippte wieder und wieder und wieder. Unwillkürlich
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