Gemordet wird immer
wieder in seinem ganzen Leben würde er in eine Höhle gehen.
Mit heftigen Bewegungen zog er sich die Kleider vom Leib und schob den Duschvorhang beiseite. Dann ließ er das Wasser mit größtmöglicher Einstellung auf seine Schultern prasseln. Es lebe der Hang seiner Eltern zu gesunden Massageduschen. Er wartete ab, bis seine Haut schmerzlich rot war, dann schaltete er von heiß auf kalt. Er schrie; falls sie ihn drüben hörten, sollten sie doch von ihm denken, was sie wollten.
Als er durch den Dampf wieder ins Bad hinaustrat, stand er inmitten zerknüllter Papierschnipsel. Richtig, die hatte er sich am Nachmittag bei den Bulhaupts ja in die Tasche gesteckt. Nackt und tropfend kniete er sich hin, um die traurigen Reste in den Mülleimer unter dem Waschbecken zu stopfen, bis er innehielt. Sein Blick blieb an einem Wort hängen, dann an einem weiteren. »Klage«, stand da und »Unterlassung«, ein Aktenzeichen. Hastig langte er nach einem Handtuch, um sich die Hände abzutrocknen, damit die Fitzelchen nicht mehr an seinen Fingern klebten. Dann setzte er sie an Ort und Stelle, nackt wie er war, auf dem blauen Plüschvorleger hockend, zusammen. »Das ist es«, schrie er endlich, sprang auf und stieß sich den Kopf am Waschbecken.
Fluchend sammelte er die zusammengehörigen Puzzleteile ein und trug sie hinüber. »Miriam, das ist des Rätsels Lösung.«
»Miriam ist nach Hause gegangen«, sagte Hedwig und musterte von oben bis unten seinen krebsroten, tropfnassen und splitternackten Körper. »Und wir werden das jetzt auch tun. Komm, Tobias.«
31
Eine Weile stand Viktor unschlüssig im Wohnzimmer seiner Eltern herum. Er war versucht, Miriam anzurufen, nahm das Telefon in die Hand, legte es dann wieder zurück. »Was soll’s«, rief er schließlich und wählte ihre Nummer. »Ich habe mich wie ein Idiot benommen«, sagte er ohne Begrüßung.
»Stimmt«, erwiderte sie und legte auf.
Wieder stand Viktor da, unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Dann zog er sich an. Seine Müdigkeit war verflogen. Er würde die Sache jetzt ein für alle Mal klären.
Er griff nach seinen Kleidern, rubbelte sich noch einmal mit dem Handtuch durch die tropfnassen Locken und machte sich gerade bereit zum Aufbruch, als es an seiner Wohnungstür klopfte. Wolfgang Anders stand ihm gegenüber.
»Ich wollte nach der Rede für Pfarrer Bauer fragen«, sagte er und streckte die Hand aus.
Viktor fluchte. »Ist das morgen?«
Sein Onkel runzelte die Stirn. »Muss ich mir Sorgen machen, Viktor?«
Der überlegte kurz. In seinem Leben gab es entschieden zu viele Baustellen. »Nein«, raunzte er dann und warf die Tür zu. Verdammt. Den Pfarrer hatte er vollkommen vergessen. Einen Moment lang stand er ratlos im Flur. Die Beerdigung war für neun Uhr angesetzt, und er war entschlossen, die Rede selbst zu halten. Er musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen.
Mit einem entnervten Seufzer zog Viktor die Jacke wieder aus und ging in sein Arbeitszimmer. Lange ließ ihn der Gedanke nicht los, dem Mörder von Bulhaupt dicht auf den Fersen zu sein. Immer wieder wanderte sein Blick vom Schreibtisch weg zum Fenster, wo sich sein eigenes Gesicht im Licht der Arbeitslampe spiegelte. »Du bist nah dran«, sagte er sich. Aber das musste bis morgen warten.
Endlich konnte er sich wieder auf den Text der Beichte konzentrieren. Viktor machte sich die Mühe, die Namen herauszuschreiben, die der tote Priester genannt hatte. Manche sagten ihm nichts, andere kannte er entfernt. Zwei zum Beispiel waren Klassen- oder Vereinskameraden von Hannah gewesen. Ein anderes Mädchen hatte in der Nachbarschaft gelebt, bis ihre Familie zwei Jahre vor seinem eigenen Verschwinden weggezogen war. Aber er konnte sich nur noch verschwommen an ihr Gesicht erinnern. Als er sie schließlich zusammenzählte, wurde ihm fast schlecht. Zehn, dachte er, zehn zerstörte Leben, durch einen einzigen Mann, der nicht das geringste Recht dazu hatte und am Ende nur das eigene Schicksal bedauerte.
Bis zu diesem Moment war er unsicher gewesen, was er über diesen Mann sagen wollte. Aber jetzt, während er den Computer anschaltete, flogen ihm die Ideen nur so zu. Man sagte doch, Beerdigungen wären für die Hinterbliebenen da. Bauers Hinterbliebene waren diese zehn Mädchen und Frauen. Ihnen wollte er die Rede widmen.
Eine Stunde später arbeitete Viktor noch immer mit glühenden Wangen. Als er auf ›Drucken‹ klickte, fühlte er sich zugleich aufgeregt und erschöpft, unruhig, müde
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