Gemuender Blut
und von dem Sie glaubten, er brauche Sie mehr.«
»Er hat es dann so gedreht, dass ich aus Sehnsucht zu ihm immer weglaufen würde und dass ich unbedingt bei ihm wohnen müsste.«
»Und Ihre Mutter?«
Er ging die Aktenreihen entlang und strich über die Ordnerriicken. »Kennen Sie die Geschichte über zwei Mütter, die sich um ein Kind streiten? Als der König vorschlägt, das Kind zu töten und in der Mitte zu teilen, verzichtet die richtige Mutter aus Liebe auf ihr Anrecht.« Er blieb stehen und sah mich an. »Meine Mutter hat verzichtet – für meine unzerteilte Seele. Heute weiß ich das. Damals nicht. Damals hat er es geschafft, mich glauben zu machen, meine Mutter hätte mich fallen gelassen.«
»Aber als Sie dann bei ihm waren, hatte er doch sein Ziel erreicht. Warum danach noch so viele Prozesse?«
»Nein, sein Ziel war ja nicht ich, als sein Sohn. Sein Ziel war es, meine Mutter dafür zu bestrafen, dass sie ihn verlassen hat. Dabei hatte er selbst eine Zeit lang eine Geliebte.«
»Ist Ihre Mutter deswegen gegangen?«
»Nein. Meine Mutter wusste nicht, wer die Frau war. Sie wollte es auch nicht wissen.«
»War Ihre Mutter nicht eifersüchtig?«
»Es war ihr egal. Heute denke ich, es war ihr sogar recht. Sollte er sich doch an jemand anderem austoben.«
»Hat Ihr Vater Ihre Mutter geschlagen?«
»Nein! Schlimmer«, wehrte er ab. »Er hat ihr keine Luft gelassen zum Atmen. Sie musste sich ihm unterordnen. Er war das Größte und Beste, was ihr passieren konnte.«
»Hat Sie Ihnen das erzählt?«
»Sie hat mir viele Details erst sehr spät erzählt. Wollte mir mein Vaterbild nicht zerstören. Sie hat sich von ihm getrennt, als es nicht mehr anders ging. Auch von dem Ganzen«, er wies zur Kellertreppe hin, »hat sie mir erst berichtet, als ich alt genug war und selber unter seiner Dominanz gelitten habe. Aber aus Süddeutschland konnte ich den Kontakt zu meiner Mutter nur schlecht aufrechterhalten, ohne dass er es gemerkt hätte.«
»Er hielt Sie von Ihrer Mutter fern?«
»Ja.« Jonas Prutschik betrachtete seine Hände. Jetzt erst bemerkte ich, dass ein roter Glanz auf seinen Nägeln lag. Er trug Nagellack.
Er folgte meinem Blick.
»Das konnte er nicht akzeptieren. Das passte nicht in sein Weltbild. Er wollte bewundert werden. Edel. Schön. Extravagant. Der Sohn als Statussymbol. Aber das?« Er hielt die Hand in einer übertriebenen Geste unter sein Kinn. »Ich singe Chansons der zwanziger Jahre. In Frauenkleidern. Damit finanziere ich mein Studium. – So zu sein, wie ich bin«, flötete er und lächelte. In diesem Moment wirkte er wie ein junges Mädchen auf mich. Kokett. Frivol. Aufreizend.
»Ihre Mutter nimmt Sie so, wie Sie sind?«
»Meine Mutter hat mich immer so genommen, wie ich bin.« Er richtete sich auf, seine Stimme klang wieder tiefer und männlicher. »Mein Vater hat versucht, meine Mutter kleinzumachen, und hätte es auch fast geschafft. Aber eben nur fast. Das Gleiche gilt für mich.«
»Gibt es irgendetwas Positives, das Sie über Ihren Vater sagen können?«
»Er konnte gut kochen.«
SECHS
Die bunte Skulptur warf lange Schatten auf den Rasen, als ich wieder vor die Tür trat. Trotz der letzten Sonnenstrahlen des Tages krochen Kälteschauer über meinen Rücken. Jonas Prutschiks Antworten auf gestellte und ungestellte Fragen hatten mich erschüttert. Jetzt wollte ich nur noch nach Hause und über das Gehörte nachdenken. Ich kramte in meiner Tasche, wühlte nach dem Schlüsselbund und ging gesenkten Blickes auf mein Auto zu.
»Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht in meine Arbeit einmischen, Frau Weinz!« Sauerbiers Stimme dröhnte über die Straße, während er erstaunlich agil auf mich zugestürmt kam. Ich schreckte hoch.
»Ich habe einen Besuch abgestattet, Herr Sauerbier.« Ob er das Zittern in meiner Stimme hören konnte? Ich fühlte mich wie eine kleine Schülerin vor ihrem gestrengen Lateinlehrer.
»Nicht zufällig bei Frau Berkel?«
»Nein, mit ihr habe ich nicht gesprochen.«
»Halten Sie mich nicht für blöd, Frau Weinz«, plusterte Sauerbier sich auf. Er stand jetzt so dicht vor mir, dass ich seinen Atem riechen konnte. Pfefferminzbonbons und Pommes. Vermutlich eher umgekehrt.
»Haben Sie mit dem Sohn gesprochen?« Er wippte auf den Zehenspitzen auf und ab. Die Schnauzbartspitzen zitterten.
»Ich habe mich eine Weile mit Jonas Prutschik unterhalten, das ist richtig. Er hat mir erzählt, dass seine Mutter vorgestern nicht in Gemünd war, sondern mit
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