Gemuender Blut
machte. Ohne Ablenkung. Immer zur gleichen Zeit.
In den letzten Wochen hatte Papa nicht mehr so streng darauf geachtet. Er war abgelenkt von der Frau, die jetzt oft kam. Sie war zwölf und kein Kind mehr. Sie wusste, warum die Frau zu Papa kam und was die beiden miteinander machten. Und dann saß sie an ihrem Schreibtisch und starrte den Schmetterling an. Immer zur gleichen Zeit. Prinzessin, hatte Papa gesagt. Sie war froh, wenn die Frau kam. Und sie war traurig. Die Frau wollte nicht, dass Papa sie Prinzessin nannte. Sie sei dafür schon zu groß. Sie sei kein Kind mehr. Die Frau wusste es. Sie wusste es. Papa tat, was die Frau wollte.
Aber wenn die Frau weg war, dann zog er sie auf den Schoß, strich ihr über den Kopf, versenkte seine Nase in den seidigen Haaren und sog ihren Duft ein. »Sie sind das Schönste an dir, dein größter Schatz. Wie eine Prinzessin.« Sie war dann immer ganz still auf dem Schoß des Vaters sitzen geblieben, hatte sich nicht gerührt, nicht bewegt und gedacht, dass der Vater wohl recht hatte.
»Meine Haare sind mein Schatz«, flüsterte sie sich selbst zu, fasste eine der Strähnen und zog sie durch die Finger, während sie wieder den Schmetterling anstarrte. Wie Seide. Papa hat recht.
Irgendwo im Haus klingelte das Telefon. Sie nahm es nicht wahr. Das Klingeln galt selten ihr. Die Freundschaften mit den anderen Mädchen aus ihrer Klasse endeten am Schultor. Jeder ging dann seiner Wege. Ganz zu Anfang hatte sie einmal darum gebeten, doch ein anderes Kind einladen oder ein anderes Kind besuchen zu dürfen, aber das hatte Papa nicht gewollt.
»Soll ich dann ganz alleine hier sein, ohne meine Prinzessin?«, hatte er gefragt und sie traurig angesehen. Das war, noch bevor die Frau gekommen war. Als sie kam und Papa nicht mehr hätte alleine bleiben müssen, hatte sie schon vergessen, wie es war, wenn man Freunde hatte. Nur in der letzten Zeit war es anders.
»Du hast so schöne Haare!«, sagten einige der anderen Kinder in der Klasse und sahen fast ein wenig neidisch aus. »Wie Seide!«
Sie stand auf und ging zu ihrem Fenster. Im Glas sah sie ihr Spiegelbild und musste lächeln. Sie haben recht, dachte sie und wühlte sich mit beiden Händen hinein.
Sie bemerkte nicht, wie die Zimmertür geöffnet wurde und Papa mit der Frau hineinkam. Erst als die Frau hinter ihr stand und mit spitzen Fingern nach ihrem Kopf packte und sie ins Licht zog, schrak sie zusammen.
»Noch mal dieses Ungeziefer halte ich nicht aus!«, keifte die Frau mit schriller Stimme. »Das letzte Mal hat mir gereicht. Stundenlang alles waschen, absaugen und desinfizieren. Nicht noch einmal!« Sie teilte das Haar und kratzte auf der Kopfhaut herum. »Da!« Die Frau schrie auf. Sie schreckte zusammen, zog den Kopf ein und machte sich klein. »Du hast sie schon wieder! Das eben am Telefon war eine andere Mutter aus deiner Klasse. Es gibt wieder Läuse.«
Sie wusste für einen Moment nicht, was sie schlimmer fand: Die Tatsache, dass sie nun die Prozedur des Entlausens über sich ergehen lassen müsste, samt Gezeter, Geschimpfe und Geschreie der Frau, oder die Tatsache, dass die Frau eben von einer »anderen Mutter« gesprochen hatte, ganz so, als ob sie sich wie selbstverständlich für ihre Mutter halten würde, was sie wahrhaftig nicht war. Wieder spürte sie die Finger der Frau in den Haaren.
»Die müssen jetzt ab!«, sagte die Frau und zerrte sie von ihrem Schreibtisch weg, in Richtung Badezimmer. »Endgültig ab.«
Sie verstand erst, was die Frau meinte, als sie die Schere in ihrer Hand sah.
»Nein«, flüsterte sie und sah Hilfe suchend zu ihrem Vater, der die ganze Zeit danebengestanden und geschwiegen hatte.
»Nein, bitte nein!«, sagte sie jetzt lauter, als er sich nicht rührte.
Voller Panik wandte sie sich um und versuchte, sich zwischen der Tür und der Frau hindurch in den Flur zu drücken. Aber die Frau packte sie am Arm und hielt sie fest.
»Das könnte dir so passen, was? Schleppst uns hier das Ungeziefer ein, und wir sollen sehen, wie wir damit klarkommen. Ich werde dir jetzt zeigen, wie ich damit klarkomme.«
Sie wehrte sich stumm. »Papa!«, flehte sie schließlich, »bitte nicht meine Haare abschneiden.«
Der Vater nickte der Frau zu, und sie ließ seine Tochter los. Sofort stolperte das Kind die drei Schritte zum Badewannenrand und flüchtete sich in die Arme des Vaters. Er drückte sie fest an sich.
»Prinzessin«, murmelte er dicht am seinem Ohr, versenkte seine Nase in den seidigen
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