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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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die Tasse sorgfältig und drehte den Henkel in meine Richtung. Dann goss er den Tee aus einer antiken Porzellankanne ein, bot mir Milch, Zucker und Zitrone an und ließ sich im Sessel nieder.
    In dem schweren Ledersessel wirkte seine Figur zierlich und kleiner als eben noch. Ich suchte nach körperlichen Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Professor, konnte aber außer der Größe keine entdecken.
    »Das ist sehr hart, was Sie da sagen, Herr Prutschik.«
    »Nicht härter als das, was er mir und …« Er machte eine kurze Pause und senkte den Kopf. Dann seufzte er. »Was er uns, mir und meiner Mutter, angetan hat.«
    Ich schwieg und sah ihn aufmerksam an. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass Stille in einem Gespräch sehr hilfreich war. In diesem Fall hatte ich mich getäuscht.
    »Warum wollen Sie Ihrem Freund helfen? Sind Sie von seiner Unschuld überzeugt?«, ging er zur Gegenfrage über und erwiderte meinen Blick. Seine Augen waren fast schwarz. Er hatte erstaunlich lange Wimpern. Wie eine Frau.
    »Ich weiß nicht, ob Steffen wirklich unschuldig ist. Ich war zur Tatzeit nicht bei ihm. Aber ich glaube, dass er es ist, und deshalb helfe ich ihm.«
    »Sie waren auch dabei, als mein Vater mit Ihrem Freund aneinandergeriet.« Eine Feststellung, keine Frage. Noch bevor ich antworten konnte, fuhr er fort: »Dann haben Sie ja gesehen, wie er war. Unbeherrscht, egozentrisch und unbelehrbar.«
    »Er hat in der Tat keine Ruhe gegeben.«
    »Das hat er nie. Für ihn war die Welt erst dann in Ordnung, wenn sie so war, wie er sie wollte. Und wehe, es stellte sich ihm jemand entgegen.« Jonas stand auf und ging zum Fenster. Eine schmale Silhouette im Gegenlicht. Dann wandte er sich mir wieder zu und versenkte seine Hände in den Hosentaschen. »Meine Mutter hat es versucht.«
    »Hat sie es geschafft?« Ich umfasste mit einer Geste den Raum. »Es sieht ja so aus.«
    Er lachte bitter.
    »Ja, sie hat es geschafft.« Er setzte sich wieder in den Sessel. »Jetzt. Wo er tot ist.«
    »Vorher nicht?«
    »Er hat ihr keine Ruhe gelassen. Sie immer weiter mit Prozessen überzogen. Er konnte nicht akzeptieren, dass sie ihn verlassen hat. Einen Peter Prutschik verlässt man nicht.«
    »Sie haben ihn verlassen!«
    »Viel zu spät.« Er sah die Frage in meinen Augen und nickte. »Ich hätte es früher erkennen können. Er hat mich manipuliert, mich instrumentalisiert, mich nicht als Person geliebt, sondern als etwas, was er gegen meine Mutter in der Hand hatte. Als ein Druckmittel.«
    »Was hat er genau getan?«
    Statt einer Antwort stand Jonas Prutschik auf.
    »Kommen Sie, Frau Weinz. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
    Ich folgte ihm. Er stieg die Kellertreppe hinunter. Ich zögerte.
    »Ich werde Ihnen schon nichts tun, Ina«, lächelte er mich an. »Außerdem hat mit Sicherheit irgendeine Nachbarin gesehen, wie Sie unser Haus betreten haben. Ich hätte keine Chance zu leugnen.«
    »Stimmt«, grinste ich zurück und folgte ihm. »Keine Chance.«
    Er betrat einen Kellerraum und betätigte einen Schalter. Licht aus einer nackten Birne, die an einer Baufassung baumelte, erhellte den Raum. An jeder Wand standen Regale, wie in einer Bibliothek. Darin, dicht an dicht, reihten sich Aktenordner, auf deren Rücken Jahreszahlen geschrieben standen. Die frühesten stammten aus dem Jahr 1996, die neuesten trugen die Aufschrift 2009, etliche für jedes Jahr.
    »Das sind die Unterlagen über die Prozesse, die mein Vater gegen meine Mutter angestrengt hat.«
    »Das ist eine Menge Papier.« Ich sog die Luft zwischen meinen Lippen ein. »Eine lange Zeit.«
    »Dreizehn Jahre.« Er ging zu dem Ordner mit der Aufschrift »1996« und zog ihn heraus. »Im März 96 ist meine Mutter in ihre eigene Wohnung gezogen und hat mich mitgenommen. Da fing es sofort an. Streit um Besuchsrechte, Unterlassungsklagen, Unterhaltsstreitigkeiten.« Er blätterte in dem Aktenordner, ohne auf die Seiten zu achten. »Wenig später hat er angefangen, mir zu erzählen, wie schlecht es ihm ginge, wenn ich nicht da sei. Und dass die Mama auch mich verlassen hätte, weil sie unsere Familie zerstört hätte, und dass ich ihn nicht alleine lasse dürfte. Es sei so schlimm für ihn, wenn das Haus leer wäre.«
    Jonas Prutschik klappte den Ordner zu und schob ihn zurück ins Regal. »Damals begann ich aus der Schule wegzulaufen, damit er nicht alleine zu Hause sein musste. Ich war elf Jahre alt.«
    »Sie haben so gehandelt, wie jedes Kind handeln würde. Sie trösteten den, den sie lieb hatten

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