Gemuender Blut
fallen.
»Nur einen Schritt bis zur Ewigkeit, Ina!« Der Mann hat mir den Rücken zugekehrt. Seine Stimme hallt warm in meinem Kopf, vertraut und fern gleichzeitig. Unter mir, wie aus weiter Entfernung, kann ich die Stimmen der Passanten hören, die, mit Einkaufstaschen bepackt, über den Roncalliplatz eilen. Ich klammere mich an den kalten Stein und spüre, wie die Kanten in meine Handflächen schneiden. Die Wahrheit bohrt sich in meine Seele.
»Du hast sie umgebracht, Jan!«
Er lacht.
Nein, nicht Jan. Der andere muss es gewesen sein. Ich stimme in sein Lachen ein und merke, wie es durch meine Kehle kippt. Meine Hand auf seinem Rücken. Er zuckt zusammen.
»Du hast sie umgebracht?« Eine Frage diesmal.
Langsam nickt er und wendet sich mir zu.
Meine Kehle verschließt sich. Nicht Jan. Ich ringe nach Luft. Spüre, wie der Boden unter meinen Füßen verschwindet. Der andere. Grau wird zu Grün. Wie im Karussell dreht sich alles. Bäume fliegen vorbei, ziehen lange Schlieren von Grün hinter sich her. Der steinerne Engel lächelt höhnisch.
Ich hebe die Arme, will es abwehren, kehre mich ab von dem, was ich nicht sehen, nicht wissen will.
Stechender Schmerz in meinen Beinen.
Mühsam kämpfte ich mich an die Oberfläche. Kein Dom. Kein Wald. Nur mein Bett. Nur der Albtraum. Atme, Ina, atme. Wie einem Mantra lauschte ich dem Fluss in meinen Lungen.
Ich rollte mich auf dem Bett zusammen. Vertraute ich auf einen Instinkt, dem ich nicht vertrauen durfte?
FÜNF
»Dies ist der Anrufbeantworter von Monika Berkel und Klaes Ten Bolder. Bitte hinterlassen Sie …« Ich legte auf, würde es später wieder versuchen.
Selbst das Autofahren tat weh. Ich parkte auf dem kleinen Platz gegenüber der Kirche und stieg aus. Die Apotheke lag auf der anderen Seite der Kölner Straße. Maisgelb hob sich ihre Fassade von den umliegenden Häusern ab. Ich sah mich um.
An der Ampel stauten sich die Wagen aus drei Richtungen. Verkehrsknotenpunkt. Gemünd City. Wer sich mit dem Navigationssystem von Köln nach Aachen leiten ließ und die Autobahnoption ausschloss, kam hier entlang. Es war aber auch die Verbindung der einzelnen Gemünder Ortsteile. Von Malsbenden nach Nierfeld und vom Salzberg nach Mauel, an der Kirche mit ihrem Backsteinturm kam niemand vorbei.
Die Ampel ignorierend passte ich eine Lücke im Verkehr ab und humpelte über die Straße. Die Wunden brannten, und als ich meinen Rock anhob, sah ich, wie an meinem linken Bein eine dünne Blutspur mäanderte.
»Das sieht nicht gut aus!« Die Apothekerin runzelte die Stirn. »Hier an den Rändern hat es sich bereits entzündet.«
Sie bog um die Ecke, zog Schubladen in verschiedenen Höhen auf und kam schließlich mit einem Arm voll Verbänden, Salben und Pflastern zurück. »Desinfizieren Sie es und nehmen Sie diese Salbe. Die unterstützt den Heilungsprozess.« Sie schob die Packungen auf mich zu. »Tetanusimpfung ist noch aktuell?«
»Ich bin Polizistin, da werden wir regelmäßig gecheckt. Ich denke, ich bin versorgt.«
»Ach, zur Polizei hat es dich verschlagen? Das ist ja interessant!«
Ich drehte mich um und sah in ein Gesicht, das mir unter den dicken Make-up-Schichten vage bekannt vorkam.
»Ist es spannend, so auf Streife?« Der Puder betonte die Fältchen um die Augen, als mein Gegenüber lächelte.
»Ich denke, dass es das ist. Ich weiß es aber nicht ganz genau. Es ist nicht mein Bereich.«
»Nein?« Die Frau kicherte. »Was machst du denn sonst?« Sie wedelte mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum. »Doch nicht etwa böse Verkehrssünder jagen?« Ihr Kichern kiekste. »Also mein Andreas, der hat ja immer mit deinen Kollegen zu tun. Aber mit seinem großen Cherokee fällt es ihm auch wirklich schwer, sich an die Geschwindigkeit zu halten. Nur wenn er den Anhänger mit unseren beiden Pferden hinten dranhat, geht es so eben.« Sie schaffte es, zwischen zwei Sätzen Luft zu holen. »Also, nun sag deiner alten Freundin Katja schon, wo es dich hinverschlagen hat.«
Katja Sahtmanns. Bis zur elften Klasse meine beste Freundin. Dann wurde sie schwanger, und unsere Wege trennten sich. Irgendwie. Ich versuchte, sie durch die Spuren der Jahre und der Schminke hindurch zu erkennen. Es war schwierig. Unmöglich. Von der fröhlichen, neugierigen Siebzehnjährigen war nicht mehr viel zu sehen. Sie wollte immer Ingenieurin werden, war ein Ass in Physik und Mathe.
»Kripo Köln. Und du?«
»Ach, ich bin dauernd beschäftigt. Die Kinder aus dem Haus. Andreas in der
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