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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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Ich merkte, wie ich mich mit jedem Tag, den ich im Schoß der Familie verbrachte, mehr verstrickte. In Abhängigkeiten. In Rücksichtnahmen. In Verbindlichkeiten und Verbindungen, die ich schon lange gelöst zu haben glaubte.
    Aber konnte ich das überhaupt trennen? Was davon war auf Olafs Wunsch hin geschehen und was aus meinen eigenen Beweggründen? Hatte ich mir meine Wünsche überhaupt eingestanden? Wollte ich sie mir eingestehen? Oder schob ich einfach alles vor? Die Wünsche der anderen, die Verbindlichkeiten und Rücksichtnahmen?
    Ich lenkte meinen alten Käfer durch Gemünd, durch die Straßen, die ich aus meiner Kindheit kannte. Aber sie hatten sich geändert. Alles hatte sich geändert. Hinter denselben Fassaden wohnten andere Menschen. Ich war weggegangen, weil ich diese Enge nicht aushielt. Und jetzt war diese Enge das Einzige, was mir Sicherheit gab.

SIEBEN
    »Vater ist im Krankenhaus Mechernich! Konnten dich nicht erreichen.« Der Zettel lag auf dem Küchentisch. Hastig hingeworfene Zeilen auf einem Stück abgerissenem Zeitungspapier.
    Ich zerrte mein Handy aus der Tasche. Stummschaltung. Ich hatte weder die SMS noch die zahlreichen Anrufe bemerkt, mit denen Olaf versucht hatte, mich zu erreichen.
    Olaf antwortete nicht. Während ich immer wieder seine Nummer wählte, rannte ich die Treppen hinunter zu meinem Auto.
    Als wüsste er, dass es zählte, sprang der Käfer ohne ein Mucken an und brachte mich in zwanzig Minuten nach Mechernich. Ich stellte den Wagen in dem extra für das Krankenhaus errichteten Parkhaus ab und schlängelte mich durch die Raucher im Bademantel, die den Eingang des Krankenhauses säumten.
    »Ihr Vater liegt auf der Intensivstation«, informierte mich die Dame hinter der Pförtnertheke und erklärte mir den Weg. »Weitere Informationen erhalten Sie von dem Arzt vor Ort.«
    Ich hastete die Treppe hoch und fand mich im ersten Stock wieder. Vergeblich suchte ich den Aufgang, der mich eine Etage höher bringen sollte, und entschied mich schließlich doch für den Aufzug. Während ich rechts den Gang hinuntereilte und an der Schleusentür klingelte, gingen mir alle Schrecken durch den Kopf, die ich seit Jahren erfolgreich verdrängt hatte. Hermann war im Frühjahr sechsundsiebzig Jahre alt geworden. Sechsundsiebzig Jahre, die man ihm zwar nicht ansah, die aber mit Sicherheit nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein konnten. Auch mein Vater war nicht unsterblich.
    »Ja, bitte?« Eine freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher über der Klingel. Ich ratterte meinen Namen, den meines Vaters und den Grund meines Besuches herunter.
    »Bitte nehmen Sie einen Moment im Wartezimmer Platz, eine Schwester wird Sie abholen kommen. Zweite Tür links, dann erste rechts.«
    Mit einem Summen sprang die Tür zum Intensivbereich auf. Nervös sah ich mich um. Der Raum versuchte Gemütlichkeit auszustrahlen. Vier Stühle, ein kleiner Tisch, Wasserflaschen und Gläser standen für Angehörige und Besucher bereit. Schilder forderten mich auf, mein Mobiltelefon auszuschalten und mir die Hände zu desinfizieren. Aus dem kleinen Flur drang das Geräusch klappernder Absätze. Eine Krankenschwester erschien und steckte ihren Kopf durch die Tür. »Frau Weinz?«
    Ich stand auf.
    »Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrem Vater.« Sie lächelte mich an und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Ihr Bruder ist schon da.«
    Ich folgte ihr durch den Gang. Weiß lasierte Holztüren und Wandschränke vermittelten einen wohnlichen Eindruck. Und auch der Empfangsbereich, hell ausgeleuchtet und mit Ärzten und Pflegepersonal bevölkert, erinnerte eher an eine normale Arztpraxis.
    Das änderte sich, als ich mich umdrehte und in das Zimmer meines Vaters blickte. Der Raum wirkte eng, klein und bedrückend. Zwei Betten standen nebeneinander. Im ersten lag eine alte Frau, die Augen geöffnet, den Blick leer. Trotzdem lächelte ich sie automatisch an und grüßte nickend.
    Das Bett meines Vaters stand am Fenster. Apparate und Maschinen krönten das Kopfteil.
    »Er hatte einen Unfall.« Olaf drehte sich nur kurz auf seinem Stuhl zu mir um, als er mich kommen hörte. »Er ist von der Leiter gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen.« Mein Bruder streichelte Hermanns Hand.
    »Was wollte er auf der Leiter?«, fragte ich ihn, obwohl mir im selben Moment klar wurde, dass das die unwichtigste Frage war, die ich ihm stellen konnte.
    »Fenster putzen.«
    Ich trat neben Olaf ans Bett meines Vaters.
    Hermann versank in der Umgebung.

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