Gemuender Blut
Schläuche führten zu seinem Körper. Leuchtdioden, Messgeräte, das Zischen der Sauerstoffversorgung. Maschinen klickerten leise. Er steckte in einem dieser weißen Krankenhaushemden, die es den Schwestern und Pflegern leichter machen sollten. Hermann sah trotz seiner Größe seltsam zerbrechlich aus. Die Hände wirkten fremd in der Umgebung. Gartendreck und Bräune strahlten eine Gesundheit aus, die nicht zu dem übrigen Körper passte. Mein Vater hatte die Augen geschlossen. Der Beatmungsschlauch in seinem Mund bewegte sich im gleichen Rhythmus wie der Brustkorb.
»Du dummer alter Mann.« Tränen traten mir in die Augen. Ein heiseres Lachen kratzte durch meine Kehle. Ich würgte es hinunter. »Fensterputzen!«
»Er ist nicht von der Leiter gefallen. Die Leiter ist zerbrochen!« Bei Olaf konnte ich den gleichen Kampf hören, den ich gerade mit mir selbst austrug. »Hast du sie nicht gesehen? Ich habe sie quer über der Einfahrt liegen lassen, als ich dem Krankenwagen hinterhergefahren bin.«
»Ich habe sie an die Hauswand gelehnt, Olaf.« Aus dem Flur hinter uns drang eine Frauenstimme.
Ich drehte mich um.
»Hallo. Ich bin Michelle. Olaf hat mich mit hierhergebracht. Ich hätte dich gerne unter anderen Vorzeichen kennengelernt.« Die junge Frau kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen.
Für einen Moment war ich sprachlos. Sie war eine wirklich hübsche Frau. Ihre langen Haare glänzten, und obwohl sie sie zu einem strengen Zopf geflochten hatte, der ihren Rücken hinunterfloss, hatte ich ein genaues Bild vor Augen, wie es aussehen müsste, wenn sie diesen Zopf lösen und die Haare offen hängen lassen würde. Ihre gleichmäßigen Gesichtszüge hätten schnell eine Aura von Arroganz und Snobismus verbreiten können, wäre da nicht dieses Lächeln gewesen, das mich sofort für sie einnahm.
»Ina. Olafs Schwester. Aber das weißt du bestimmt schon.«
Sie nickte.
»Die Leiter.« Sie trat neben Olaf und strich ihm zärtlich über die Wange. Olaf schaute zu ihr hinauf und strahlte sie an. Es schien, als ob er Hermann in diesem Moment vergessen hätte. »Ein Holm ist durchgebrochen, einfach weggeknickt zur Seite.«
»Wir haben ihn gefunden, als wir nach Hause kamen …« Olaf wandte sich wieder Hermann zu. »… und sofort den Krankenwagen gerufen. Er hat sich den Schädel eingeschlagen beim Aufprall und ist seitdem bewusstlos.«
»Was sagen die Ärzte, wann er wieder aufwachen wird?«
»Sie wissen es nicht, Ina. Gleich kommt der Chefarzt und will mit uns reden.«
»Wird er überhaupt wieder aufwachen?«
Ein Arzt ging an der Empfangstheke entlang und betrat Hermanns Zimmer.
»Herr Stein.« Er sah mich an. »Hallo, Ina.« Ich erkannte ihn.
»Hallo, Thomas«, begrüßte ich meinen ehemaligen Klassenkameraden. »Blöder Anlass für ein Wiedersehen. Findest du nicht?«
»Ein ernster Anlass, Ina.« Er zog einen Füller aus seiner Brusttasche und schlug die Krankenakte auf. Dann wies er auf den Stuhl am Besuchertisch. »Setz dich doch, damit wir in Ruhe reden können.«
Das Scharren der Stuhlbeine auf dem glatten Linoleum übertönte das Piepsen der Apparate.
»Dein Vater«, er unterbrach sich und schaute auf Olaf, »euer Vater hat ein schweres Schädelhirntrauma erlitten. Er öffnet die Augen nur zögerlich und antwortet sehr unzusammenhängend, wenn wir ihn ansprechen. Das ist sehr problematisch. Allerdings reagiert er auf Schmerzreize.«
»Und das ist gut?«
»Es ist besser, als wenn er keine Schmerzempfindlichkeit zeigen würde.« Thomas klappte die Akte zu. »Wir haben ihn zunächst in ein künstliches Koma versetzt, das wir allerdings so schnell wie möglich wieder beenden möchten.«
»Wird er dann wieder bei Bewusstsein sein?«, mischte sich Olaf in das Gespräch ein.
»Wir hoffen es. Spätfolgen können zu diesem Zeitpunkt aber nicht ausgeschlossen werden.«
Thomas Breitenbacher sah mich an. »Wenn ihr noch Fragen habt, ruft mich ruhig an.« Er zögerte kurz, runzelte die Stirn und schrieb dann mit dem Füller eine Telefonnummer auf die Rückseite seiner Visitenkarte. »Hier, auch privat. Ich wohne in Kall.«
»Ob dein Vater uns erzählen kann, was genau passiert ist, wenn er wieder wach ist?«, fragte Michelle, nahm Olaf in den Arm und strich ihm über die Wange.
»Wir können eh nichts mehr daran ändern.« Tränen blockierten wieder meine Kehle.
»Wir könnten …« Olaf tauchte aus seinen Gedanken auf und erhob sich. »Wir könnten … ach, vergiss es. Ich werde dieses Teil
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