Gemuender Blut
an meines Vaters Haus passte. Was nur bedeuten konnte, dass Olaf Fakten geschaffen und die Schlösser ausgetauscht hatte.
»Mistkerl!«, fluchte ich leise und überlegte.
Michelle wusste davon anscheinend nichts, sonst hätte sie mir den Schlüssel ja nicht wiedergegeben. Es gab eine Hintertür. Und der Sesam-öffne-dich für diese Tür lag gut versteckt unter einem Stein am Gartenteich. Sicher hatte Olaf den vergessen.
Ich löste den Haken des Zauntors, das den Vorgarten vom größeren Teil des Grundstücks abteilte und in der Hauptsache die Funktion hatte, die Rehe, die nachts über Rosenbeete und Obststräucher herfielen, auf Abstand zu halten. Meine Füße versanken im hochstehenden Gras wie in einem Teppich.
Rasenmähen war Hermanns Aufgabe. Sollte er wirklich so lange nicht einsatzfähig sein, wie Thomas es angekündigt hatte, musste Olaf entweder selbst zur Graspflegeausrüstung greifen oder über eine baldige Heuernte nachdenken. Die dritte Möglichkeit, mich selbst als Gärtnerin zu betätigen, verwarf ich sehr schnell. Schon als Kind hatte ich es gehasst, die schwere Maschine über das Grundstück zu ziehen und zu zerren, dabei den Benzingestank einzuatmen und später kleine grüne Halme aus allen Falten meiner Kleidung herauszupulen. Die zwei Mark, die es nach verrichteter Arbeit gab, hatte ich großzügig zuerst an einen Nachbarsjungen und später, als er groß genug war, an Olaf abgetreten.
Die einzige Arbeit, die mich faszinierte, war das Abfischen der toten Blätter aus dem Gartenteich. Den Kescher einzutauchen, in langsamen und gleichmäßigen Bewegungen durch das Wasser zu ziehen, glich einer Meditation, machte mich ruhig und meine Gedanken frei. Schon als Kind. Es war meine Idee gewesen, den Schlüssel zur Hintertür unter einem Stein zu verstecken, der im Wasser lag. Ich hatte zwei Wochen an einer dichten Hülle getüftelt, die sich wieder öffnen ließ. Das Ergebnis konnte sich immer noch sehen lassen. Der Mechanismus funktionierte, und der Plastikbehälter tauchte auf.
Aber meine Hoffnung trog mich. Mein Bruder war gründlicher und systematischer vorgegangen, als ich ihm zugetraut hatte. Wider Willen musste ich grinsen. »Wir müssen reden, Ina«, stand auf dem kleinen Zettel, der zusammengerollt in der Hülse lag.
Olaf kannte mich besser als ich ihn. Das Gefühl, meinen Bruder nicht zu kennen, nicht zu wissen, was und wie er dachte, wie er fühlte und wie es ihm ging, überrannte mich mit aller Wucht. Seit diesem Tag, als er hinter der Gardine gestanden und mich hatte wegfahren sehen, war der Bruch in unserer Verbindung nie wieder geheilt.
Es war Zeit, das zu ändern. Ich hoffte, dass er das auch so sehen würde, und drehte nachdenklich das Papierstück zwischen meinen Fingern.
»In Ordnung«, sagte ich zu den Goldfischen, ohne auf ihre stumme Bitte um Futter zu achten. »Wir müssen reden, Olaf!«, grummelte ich und ging um die andere Hausseite herum in Richtung meines Wagens.
Die Leiter lag dort, wo Michelle sie hingeschoben hatte. Fünf Meter Aluminium glänzten matt in der Sonne. Olaf hatte seinen Plan, die Leiter auf die Müllkippe zu bringen, noch nicht umsetzen können. So einfach ließ sich das gute Stück ja auch nicht transportieren. Bis Hermann aus dem Krankenhaus entlassen würde, musste sie allerdings verschwunden sein. Sonst käme er womöglich noch auf die Idee, sie weiterhin zu benutzen, sparsam, wie er war. Ich seufzte. Hoffentlich war er bald wieder in der Lage, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen.
An einer der unteren Stufen konnte ich deutlich den Knick im Seitenteil sehen, der Hermann zu Fall gebracht hatte. Wie eine Streichholzdose war das Metall zusammengestaucht, hatte unter dem Ungleichgewicht nachgegeben und meinen Vater buchstäblich ins Unglück gestürzt. Ich trat näher, um genauer sehen zu können. Mit den Fingern fuhr ich den inneren Winkel des Knickes entlang, fühlte eine Metallkante. Nicht gewellt oder eingedrückt, sondern glatt, gerade und scharf, wie von einem Schnitt. An meinem Finger erschien ein kleiner Tropfen Blut. War die Leiter manipuliert worden? Ich war mir nicht sicher. Vielleicht war es so bei diesem Metall, wenn es brach. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt wirst du paranoid, Ina, schimpfte ich mich in Gedanken aus und leckte das Blut von meiner Haut. Wer sollte so was machen? Und warum?
Ich schüttelte den Kopf und betrachtete nachdenklich die Leiter. Ich sollte die Kollegen benachrichtigen und eine vernünftige
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