Gemuender Blut
diese Zahlenkombination auf der Digitalanzeige nicht mehr gesehen. Deutlich unter acht. Zu deutlich für meinen Kreislauf. Der verabschiedete sich kurzfristig und zwang mich zur sofortigen Kapitulation. Nach fünf Minuten wagte ich einen neuen Vorstoß. Nach zehn Minuten saß ich mit einem Pulverkaffee, den ich aus der hintersten Ecke von Steffens Küchenschrank befreit und mit Hilfe eines asthmatischen Wasserkochers zubereitet hatte, am Tisch und rührte ihn kalt.
Nach dreißig Minuten hatte ich Steffen einen Kuss auf die geschlossenen Lider gedrückt, einen Zettel mit meinen Plänen für die nächsten zwei Stunden auf den Kühlschrank geklebt und meinen Käfer in Richtung Mechernich gelenkt.
»Unverantwortlich!«, tönte Thomas mir entgegen, als ich sein Sprechzimmer betrat. »Du weißt, dass du keinen Versicherungsschutz, kein gar nichts hast, wenn du ohne Entlassungspapiere das Krankenhaus verlässt!« Er kam auf mich zu, sein Stethoskop wie eine Waffe erhoben. »Herrgott, Ina, du kannst eine Blutvergiftung bekommen!«
»Wie geht es Hermann? Kann ich gleich zu ihm?«, ignorierte ich seine Schimpftirade und krempelte meine Jogginghose hoch. »Meine Beine sind schon so gut wie neu.«
»Das entscheide ich, wie deine Beine sind.« Er rollte mit seinem Stuhl vor die Behandlungsliege und streifte ein paar Gummihandschuhe über. »Wie geht es dem Kreislauf?«
»Heute Morgen hat er sich gefreut, dass ich mich noch mal hingelegt habe.« Ich grinste ihn an.
»In Ordnung«, sagte er, nachdem er fertig war. »Nimm die hier und komm jeden Tag her. Ich möchte selbst ein Auge darauf haben.«
»Danke schön.« Ich steckte die Packung mit dem Antibiotikum ein.
»Du hast was gut bei mir, Thomas.«
»Eben habe ich deinen Vater untersucht. Er ist auf dem Weg der Besserung, aber es braucht Zeit.« Thomas schrieb einige Zeilen auf die Rückseite eines Rezeptblockes. »Hier. Er wird eine Reha brauchen. Dort leisten sie gute Arbeit, und es ist nicht so weit weg.« Er gab mir die Adresse. »Kümmere dich früh genug, damit ihr einen Platz bekommt.«
Hermann schlief. Ich stand neben seinem Bett, streichelte seine Hand und musste an all die Momente und Situationen in meinem Leben denken, in denen er mich getröstet hatte.
»Du fehlst mir, Hermann.«
Er rührte sich nicht. Wirkte wie tot. Aber er atmete.
»Thomas hat gesagt, es wird wieder. Hörst du? Halte dich dran!« Ich beugte mich vor und küsste ihn auf die Wange. Als ich ging, drehte ich mich nicht um. »Was nützt es ihm, wenn ich mir Sorgen mache«, murmelte ich und musste schlucken. Die alte Frau im Bett neben meinem Vater folgte mir mit ihren Blicken. Ihr Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln.
»Kommens erinn, Kind. Kommens erinn.« Frau Rostler drehte mir den Rücken zu und verschwand im Dunkel ihres Hausflurs. Ich hörte Geschirr klappern und einen Wasserkessel pfeifen.
»Kaffee?« Ihr Kopf erschien in einer Türöffnung. Vermutlich die Küche. Ich nickte.
»Danke, gerne.« Wenn ich so weitermachen würde mit dem unkontrollierten Koffeinkonsum, würde mein Blutdruck bald verrückt spielen. Aber es gehörte einfach dazu. Kaffee und …
»Conjäcksche?« Frau Rostler zog zwei Gläser aus der Anrichte. Richtig. Der fehlte noch.
»Nein, nur den Kaffee, bitte.«
»Wie, nix zu trinken?«
»Darf ich Sie was fragen, Frau Rostler?«, lenkte ich vom hochprozentigen Thema ab, in der Hoffnung, sie durch meine Ablehnung nicht zu beleidigen.
Die Nachbarin meines Vaters setzte sich auf einen Küchenstuhl, zog Tasse und Cognacschwenker zu sich und wedelte sich mit der Hand das Aroma der beiden Getränke zu.
»Hach, herrlisch«, sagte sie, ließ aber beide Getränke stehen. »Wat kann isch für disch tun, Kindschen?«
»Sie können mir bei meinen Nachforschungen helfen.« Ich beugte mich zu ihr und senkte die Stimme. »Aber das muss unter uns bleiben. Verstehen Sie?«
Sie blickte sich in der Küche um, als ob hinter ihrem Kühlschrank eine Horde Spitzel versteckt sei, rückte mit ihrem Stuhl näher an den Tisch und nickte stumm. Ihre blond gefärbten Kurzhaarlöckchen wippten unternehmungslustig.
»Sie erinnern sich doch an das Mordopfer, Peter Prutschik?«
Nicken.
»Sie kennen ihn doch bestimmt von früher, oder?«
Die Löckchen tanzten.
»Können Sie mir erzählen, was Sie wissen?«
»Dat iss lang her, Ina.« Mit einem verschwörerischen Schmunzeln öffnete sie die Zuckerdose. »Eigentlisch darf isch dat ja nitt, wegen demm Diabetis hat die Frau Doktor
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