Gemuender Blut
Landpomeranze?
»Mattes, ich …«
Mein Ton ließ ihn aufhorchen. Ich hörte die kurze Atempause am anderen Ende der Leitung.
»Was ist los, Ina? Bist du in Schwierigkeiten?«
»Nein.« Ich atmete tief ein, bevor ich fortfuhr und ihm die Lage schilderte.
»Ruf Sauerbier an. Sofort!«, befahl er mir.
»Mattes. Sie ist die Treppe runtergefallen. Es geht alles seinen geregelten Gang. Wir müssen auf das Urteil des Arztes warten, bevor wir das KK 11 alarmieren können. Ich werde nicht unnötig die Pferde scheu machen. Sie war weit über siebzig, fast achtzig und hatte einen Unfall.«
»Weißt du das ganz sicher?«
»Ach, Mattes, wer sollte denn einer freundlichen alten Dame etwas antun wollen. Gestern hat sie sich noch bei mir beklagt, dass sie kaum Besuch bekam. Wie sollte eine solche Frau sich denn Feinde …?« Ich verstummte.
»Ina?«, quäkte es aus dem Hörer, aber ich achtete nicht darauf. Jetzt wusste ich, was ich eben nur als ein Gefühl wahrgenommen hatte. Auf der Spüle standen drei Tassen, nicht zwei. Jemand musste nach mir bei Frau Rostler gewesen sein.
»Ich leg jetzt auf, Mattes! Ich muss Sauerbier anrufen.«
Olaf starrte mich verständnislos an.
»Kommissar Sauerbier?«, fragte ich die Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung nach dem fünften Freizeichen meldete. »Hier ist Ina Weinz. Mein Bruder und ich haben gerade die Nachbarin unseres Vaters tot aufgefunden. 110 ist bereits alarmiert. Aber auch ohne Arzt kann ich Ihnen definitiv sagen, dass es sich hier um eine ungeklärte Todesursache handelt.«
* * *
Die Welt teilte sich auf in Gut und Böse. Luft und Erde. Feuer und Wasser. Schwarz und Weiß. Der Horizont dazwischen war schon lange verschwunden. Es gab kein Grau. Es gab nur eine Grenze, die sie niemals überschreiten durfte. Sie hatte nur das Gute in ihr Leben gelassen, hatte immer die feine Linie beachtet, die alles im Gleichgewicht hielt.
Das Böse, das war die andere, das Kellerkind. Das Mädchen, das immer noch an der kalten Wand lehnte und die Angst in der Einsamkeit suchte.
Aber jetzt kam das Böse näher, und es brachte die Stille mit sich. Die feuchten Wände. Die Dunkelheit. Die Angst.
Taubheit kroch ihr ins Fleisch.
Sie musste das Böse daran hindern, ihr Glück zu stehlen. Die Barriere sichern. Sie blinzelte, tastete nach dem Messer und schnitt die Grenze zwischen Gut und Böse neu in ihre Haut.
Das gleichmäßige Tropfen des Blutes auf den Rand der Spüle beruhigte sie, machte ihren Geist wach und ihre Gedanken klar. Sie schnappte nach Luft. Die Welt teilte sich auf in Gut und Böse. Luft und Erde. Feuer und Wasser. Schwarz und Weiß. Es gab kein Grau.
Alles war wieder, wie es sein musste.
* * *
»Ist dir etwas aufgefallen, als du die Leiche gefunden hast?« Thomas kam auf mich zu und zog sich die Gummihandschuhe von den Händen.
Er war der diensthabende Notarzt an diesem Abend und hatte die Leichenschau durchgeführt. Keine schöne Aufgabe. Von der Überprüfung der äußeren Vitalzeichen bis hin zum Aufschneiden der Kleidung. Die Sichtprüfung hatte keine weiteren äußeren Verletzungen ergeben, die auf Gewaltanwendung Dritter hätten schließen lassen.
»Der Geruch.«
Wieder zückte er sein Klemmbrett und den Kuli. »Ich höre!«
»Es roch nach Apfel und Nagellackentferner.«
»Hyperglykämie. Überzuckerung. Dazu passen der azetonische Atem und das Erbrochene auf dem Fußboden am oberen Treppenabsatz. Viele ältere Leute wissen nicht, dass sie Diabetiker sind.« Thomas nickte. »Sehr bedauerlich. Vermutlich ist ihr übel oder schwindelig geworden, sie hat das Gleichgewicht verloren und ist die Treppe hinuntergefallen. Die Todesursache, so wie es sich jetzt darstellt, ist Verbluten. Sie hat sich beim Sturz den Oberschenkel gebrochen und dabei die Hauptschlagader im Bein verletzt. Das kommt sehr häufig vor.«
»Aber sie wusste von ihrem Diabetes«, wandte ich ein. »Sie ging zwar sehr lasch damit um, aber sie wäre nicht unvorsichtig gewesen. Sie ging regelmäßig schwimmen.«
»Wir werden uns nach Diabetesmedikamenten umsehen, Ina. Sobald die Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen, wissen wir mehr.«
»Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Thomas.«
»Ich kreuze ›ungeklärte Todesursache‹ an.« Thomas klappte das untere Ende des Totenscheins herunter und setzte sein Kreuz in der rechten Spalte. Dann wandte er sich an den Schutzpolizisten: »Rufen Sie mal Ihre Kollegen von der KK 11.«
»Sauerbier ist schon informiert, aber ich weiß nicht, ob
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