Gemuender Blut
Wärmeschutzglas, das geht nicht so einfach kaputt!«
Mit einer schnellen Bewegung packte er die Axt, die neben dem Stapel in einem Klotz gesteckt hatte, drückte sie unter den Rahmen der Terrassentür und hebelte die Tür aus den Angeln. »Gefahr im Verzug – oder wie nennt ihr das?«, sagte er und trat zur Seite.
»Frau Rostler?« Ich drängte mich an ihm vorbei und stolperte in das Zimmer. Mit einem Blick erkannte ich, dass es leer war. »Vielleicht oben?«
Ich riss die Tür zum Flur auf. Da lag etwas. Ein Schuh. Mit zwei Schritten war ich am Ende der Treppe angelangt.
»Frau Rostler! Olaf! Schnell!« Ich kniete neben der Nachbarin meines Vaters nieder. Wollte helfen. Wollte …
Meine Finger packten in eine klebrige Flüssigkeit. Ich roch es, bevor ich es sah. Dieser metallische Geruch hatte sich in vielen Dienstjahren in mein Gehirn eingebrannt und löste Automatismen aus, die mich wie ein Roboter handeln ließen. Nur handeln, nicht denken. Das kam später.
»Stopp!«, rief ich Olaf zu und breitete meine Arme aus, um ihn daran zu hindern, sich der Toten am Fuß der Treppe zu nähern. Daran, dass sie tot war, bestand kein Zweifel. Ihre Augen starrten in das grelle Licht der Deckenleuchte, die Pupillen zu weichen Ovalen auseinandergelaufen. Unter ihrem rechten Bein, das in einem spitzen Winkel von der Hüfte abstand, hatte das Blut der Hauptarterie das Muster des Teppichs dunkel gefärbt. Quer über ihrer Brust und auf ihren ausgebreiteten Armen lagen die zerbrochenen Rahmen der Fotos, die ich gestern noch an ihrem Treppenaufgang bewundert hatte.
»Ruf die 110 an!«, sagte ich scharf und wies auf das schwarze Scheibentelefon am Ende des Flurs. »Die Kollegen müssen anrücken. Sag ihnen ›Leichensache‹, und sie sollen gleich den Notarzt mitschicken.« Ich sah zu dem leblosen Körper hinüber. »Auch wenn er nicht mehr als sein Kreuz auf dem Formular wird machen können.« Ich bewegte mich vorsichtig zu der Toten hinüber, darum bemüht, auf dieselben Stellen zu treten wie schon zuvor. Ich würde den Kollegen sagen, welchen Pfad ich in dem engen Flur bereits angelegt und begangen hatte. Ich beugte mich zu ihr hinunter und schnupperte.
»Riechst du das?«, fragte ich Olaf und drehte mich zu ihm um. Er hielt den Hörer noch in der Hand. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Es verschwand im Weiß der Wand hinter ihm. Stumm schüttelte er den Kopf.
»Apfel. Es riecht nach Apfel.« Noch einmal schnupperte ich. »Und nach Nagellackentferner.«
Wie ein Geräusch aus einer anderen Welt durchschnitt das Klingeln eines Handys die Stille. Meines Handys, wie ich sehr schnell erkannte. Also hatte ich recht gehabt.
Vorsichtig schob ich mich an der Haustür entlang, an der toten Frau Rostler vorbei in die Küche. Da lag es auf der Eckbank. Nach hinten und fast unter ein Kissen gerutscht, so war es kein Wunder, dass Frau Rostler es nicht gesehen und mir Bescheid gegeben hatte. Wenn Sie überhaupt noch jemandem hätte Bescheid geben können. Vielleicht war sie ja schon direkt nach meinem Besuch die Treppe hinuntergestürzt und gestorben.
Als ich gestern nach dem Telefon hatte fragen wollen, hatte sie nicht geöffnet. Ich lehnte mich gegen die Küchenwand. Was, wenn sie da noch gelebt und hätte gerettet werden können? Wenn sie die Treppe hinuntergestürzt und langsam verblutet war, während ich draußen stand. Meine Kehle wurde eng. Tränen krochen unter meine Lider.
»Es tut mir leid!«, flüsterte ich heiser. »Es tut mir so leid!« Jetzt erst bemerkte ich, dass das Klingeln aufgehört hatte. Trotzdem ging ich zu der Eckbank, setzte mich darauf und steckte das Telefon ein, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. Egal, wer mich gerade erreichen wollte – es war nicht wichtig genug. Erst beim zweiten Nachdenken fiel mir auf, dass ich damit den Tatort verändert hatte. Zu spät.
»Wie lange dauert es, bis sie kommen?« Olafs Stimme drang wie durch Watte zu mir.
Ich zuckte mit den Schultern und ließ meinen Blick durch die Küche wandern. Die Blumen, die Bilder, die Häkelkissen. Auf der Anrichte lag die aufgeschlagene Zeitung von gestern. Ich erkannte es an der Schlagzeile, die halb über den Rand hing. Auf der Spüle stand das abgewaschene Geschirr, aus dem wir beide gestern noch den Kaffee getrunken hatten – und das »Conjäcksche«.
Ein vages Gefühl kratzte an den äußeren Ecken meines Bewusstseins. Wieder klingelte mein Telefon. Mattes.
»Hallo?«
»Na, wo treibst du dich rum,
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